Längst ist darüber hinaus die Notwendigkeit erkennbar, den Diskurs über die Krise selbst zum Gegenstand der Krisenbetrachtung zu machen. Sowohl die marktliberal intervenierenden Wissenschaftler und Journalisten, die in den vergangenen Jahrzehnten eine Schlüsselstellung in der Beratungsszene einnahmen, als auch die auf einen Paradigmenwechsel drängenden Neukeynesianer und Anhänger alternativer Wirtschaftsordnungen heben hervor, dass es darauf ankommen werde, zu urteilen, wem in dem Diskurs über die Krise letztlich die Verursachung – eben Staat respektive Markt – angelastet werde. Das Ergebnis entscheide über die Ausrichtung der politischen und wirtschaftlichen Programme, die einen Weg aus der Krise weisen sollen. Aber auch unabhängig von der Schuldfrage werden aus der derzeitigen Debatte heraus mit hoher Wahrscheinlichkeit die gesamtgesellschaftlichen Weichen für die kommenden Jahrzehnte gestellt.
Bei den Analysen und Konzepten, der Krise Herr zu werden, stützen sich die einschlägigen Kommentatoren und Funktionsträger in der Regel auf Expertisen, die sich wissenschaftlich legitimieren. Insofern ist die Wissenschaft ein Kampfplatz für Krisenanalyse geworden. Besonders in den Sozialwissenschaften stehen die Krisenanalysen, die spezifischen Beschreibungen von Krisenverläufen sowie Konzepte zur Rettung des Kapitalismus und des (markt)liberalen Gesellschaftssystems ganz oben auf den Tagesordnungen. Gerade die marktorientierte Wirtschaftswissenschaft, die den Crash durch falsche Beratung zum Teil zu verantworten hat, versucht ihre herausgehobene Machtstellung auch inmitten der Wirtschaftskrise durch Revision oder Weiterentwicklung des Marktparadigmas in der Ökonomie zu halten. Die kritische Sozialwissenschaft sieht dagegen erstmals wieder die konkreter werdende Möglichkeit, neoliberale Dogmen in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft als solche zu entlarven und im wissenschaftlichen Diskurs an den Rand zu drängen.
In dieser unübersichtlichen Gemengelage und einer Situation, in der der Ausgang der Debatte durchaus noch offen ist, will die Tagung einen spezifischen Beitrag zur großen Debatte über die aktuelle Weltwirtschaftskrise leisten. Die Tagung will die Krise und den Diskurs darüber in axiomatisch-sozialphilosophischer Perspektive und mit interdisziplinären Methoden untersuchen. Darüber hinaus sollen auch (in der Eröffnungsveranstaltung) die Programmatik und die Forschungsvorhaben des neu gegründeten „Instituts zur Gesamtanalyse der Wirtschaft“ vorgestellt und diskutiert werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind aufgefordert, dem Begriff der Krise selbst einen Ausdruck zu verleihen und zu versuchen, in offenen Diskussionsprozessen Antworten zu finden, die über den bisherigen Stand des Wissens hinausgehen. Dabei sollen bewusste Umkehrungen geronnener Fragemuster neue gedanklicher Felder eröffnen. Zum Beispiel wäre in Bezug auf den Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Märkte nicht „Warum jetzt?“ sondern eher „Warum erst jetzt?“ zu fragen. Auch ist zur Disposition zu stellen, ob das dominante Marktparadigma in der Ökonomie nicht nur utopischen Charakter hat, sondern auch Kernpunkt einer immerwährenden Krisentheorie ist. Oder ob auf den Zusammenbruch gesamter Wirtschaften ein schnellerer Neustart hätte folgen können, wenn die faktische Insolvenz der einschlägigen Banken als Marktselektion und als positiv zu wertende Marktbereinigung aufgenommen worden wäre. Oder, um eine letzte Umkehrung vorzunehmen, ob zum Beispiel Verstaatlichungen im Modell einer Bad Bank nicht der letzte Schritt zu einer vollkommenen Privatisierung neoliberaler Art sind?
Ziel ist es, mit solchen Fragestellungen der Gefahr auf die Spur zu kommen, dass die Rettungsmaßnahmen nicht wirksam sein können, wenn sie dem Denkstil, der in die Krise geführt hat, reflexhaft entspringen und dessen grundsätzliche Fehlerhaftigkeit nicht reflektieren. Wenn aus den Institutionen heraus in diesem Sinn keine Möglichkeit konstruktiver Alternativen geboten wird und vermeintlich rettende Institutionen selbst Teil der Krise sind, wächst die Krise, um ein geflügeltes Wort des Althistoriker Christian Meier zu zitieren, unausweichlich zu einer „Krise ohne Alternative“. Schaut man in die einschlägige Geschichte und untersucht Weltwirtschaftskrisen, wird genau dieses bedrohliche Szenario als Regelfall offenbar. Es spricht durchaus schon vieles dafür, dass die derzeitige Krise nach ähnlichen Mustern läuft. Trotz anhaltender überbordender institutioneller Aktivitäten, die Krise zu bekämpfen, dauert sie nicht nur an, sondern verschärft sich zusehends. Das war bei den großen Krisen des 20. Jahrhunderts, 1929 folgende sowie 1973 folgende, recht ähnlich.
So soll am Anfang der Tagung der Begriff der Krise selbst zum Kern der möglichen Theoriebildung werden. In einem zweiten Schritt soll die Krise interdisziplinär behandelt werden, um auch deutlich zu machen, dass die Wirtschaftskrise keine einzigartige Erscheinung, sondern mehr Kumulationspunkt einer ganzen Reihe von Krisen ist. Interaktionen verschiedener Krisen und nicht intendierte Konsequenzen der Krisen können durch interdisziplinäre Methoden in den Focus gestellt werden. Letztlich sollen ausgewählte Fallstudien die abstrakten und interdisziplinären Beiträge konkretisieren, um auf diese Weise ein möglichst umfassendes Bild von der Krise und ihrer Reflexion herauszuarbeiten.