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Widerstand wider Willen

Detailaufnahme Kepler Salon
© Dieter Decker

Von JÜRGEN PETTINGER

Erschienen in der KEPLER TRIBUNE Ausgabe 1/2022, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Ab 18 Uhr finden neunzehn Hinrichtungen statt“, notiert Monsignore Eduard Köck am Morgen des 7. Februar 1944 handschriftlich in seinem Diensttagebuch. Er listet die Namen jedes einzelnen Todgeweihten auf, die jeweilige Religionszugehörigkeit, die Gründe, warum sie hingerichtet werden sollen, und sogar die geplante Reihenfolge. An diesem Montag sind es sechs Soldaten wegen Fahnenflucht, sieben Männer wegen Wehrkraftzersetzung, drei, weil sie einer kommunistischen Widerstandsgruppe angehört hatten, zwei wegen Mordes und einer – mit gerade einmal 21 Jahren der Jüngste an diesem Tag – wegen „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“. Franz Doms, so heißt der schwule junge Mann, sollte als Fünfzehnter an diesem Abend an der Reihe sein. Trotz seines jugendlichen Alters hat er schon mehr Hafterfahrung als alle anderen, die am Abend mit ihm zum Schafott geführt werden sollen. Die letzten vier Jahre seines Lebens hat er fast ausschließlich in Kerkerzellen oder Untersuchungshaftanstalten verbracht. Als siebzehnjähriger Bursche wurde er zum ersten Mal verhaftet. Nachbarn hatten ihn angezeigt. „Der Hitler kann hundert Jahre alt werden, wenn er glaubt, er bringt mich zum Arbeitsdienst“, soll er im Streit zu seiner Schwester gesagt haben. Führerbeleidigung konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, aber in der Auseinandersetzung soll auch das Wort „Warmer“ gefallen sein – drei Monate Haft für den Jugendlichen. Die Kriminalpolizei hatte es vor allem aber darauf abgesehen, andere Namen aus ihm herauszubekommen. Franz Doms erwies sich diesbezüglich allerdings als harter Knochen. Nicht einmal Schläge, Schlaf- und Nahrungsentzug oder Waterboarding führten zum Erfolg. Ein besonders dienstbeflissener Beamter organisierte eines Tages sogar Lokalaugenscheine. Obwohl aus Kriegsgründen bereits möglichst kein Benzin mehr verbraucht werden sollte, wurde Franz Doms durch ganz Wien kutschiert, um wenigstens zu zeigen, wo er sich mit den Männern getroffen hatte. Auch das allerdings nichts mehr als Spritverschwendung. So lebte in einer von Franz Doms eindeutig identifizierten Villa in Rodaun schon lange nur mehr eine alleinstehende Witwe, keine Spur von einem Homosexuellen. Eine von Franz Doms „mit allergrößter Sicherheit“ wiedererkannte Zinswohnung im dritten Bezirk in Wien war schon seit Jahren versiegelt, in ihr hatte ein Jude gelebt, dem die Flucht gelungen war. In den Ermittlungsprotokollen trieft der Frust der Beamten über den jungen Schwulen, der nicht zu knacken war, regelrecht heraus.

Nach drei Freiheitsstrafen, darunter ein Jahr schwerer Kerker, attestierte ein Staatsanwalt Franz Doms schließlich, dass von einer weiteren Freiheitsstrafe keine Besserung mehr zu erwarten sei. Erst jetzt, um sein Leben zu retten, gab er ein paar Namen bekannt. Allesamt von Kontakten, für die er ohnehin schon einmal verurteilt worden war. Trotzdem wurde der damals 20-Jährige „als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wegen Unzucht wider die Natur“ zum Tode verurteilt. In einem Beschwerdebrief schreibt er wenig später, schon in der Todeszelle sitzend, dass man für ein und dieselbe Tat nicht zweimal bestraft werden könne. Sämtliche Gnadengesuche wurden dennoch abgelehnt.

Seine letzten Stunden verbringt Franz Doms gemeinsam mit dem 30-jährigen Stefan Rambausch und dem 49-jährigen Leopold Hadaček in einer sogenannten „Armesünderzelle“, wo die Todgeweihten noch Papier und Stift erhalten, um einen Abschiedsbrief zu schreiben, und der Pfarrer ihnen letzten Beistand leistet. Im Diensttagebuch von Monsignore Köck ist verzeichnet, dass Franz Doms die Sterbesakramente erhalten habe und die beiden anderen als Atheisten um die Absolution gebeten und bekommen haben. Am Abend wird dann einer nach dem anderen abgeholt. Alle paar Minuten hallt ab 18 Uhr das dumpfe „Wumms“ des herabfallenden Fallbeils durch die Gänge und Stiegenhäuser des Wiener Landesgerichts. Um 18 Uhr 42 ist Stefan Rambausch an der Reihe. Er war Hilfsarbeiter bei den Hermann-Göring-Werken in Linz und hatte seinen Kollegen immer wieder prophezeit, dass der Krieg für Deutschland bald verloren sein und die Verantwortlichen dann an die Wand gestellt werden würden. Laut Gerichtsurteil „nicht nur ein gelegentlicher Meckerer, sondern ein systematischer Hetzer“. Leopold Hadaček war Maschinenarbeiter in Niederösterreich und überzeugter Kommunist. Er musste um 18 Uhr und 44 Minuten sterben, weil er eine Widerstandsgruppe gegründet, Kameraden angeworben, Schulungstreffen organisiert und Geld gesammelt hatte. Als Letzter wird Franz Doms um 18 Uhr und 46 Minuten aus der Armesünderzelle geholt und getötet. Nur eine Stunde dauert es, bis alle neunzehn Menschen tot sind. Pfarrer Eduard Köck schreibt: „19 Uhr: Einsegnung der Hingerichteten.“

Der Hinrichtungsraum im Wiener Landesgericht existiert noch heute. Dort, wo das Fallbeil gestanden ist, ist im Boden ein großer Abfluss für das Blut der Ermordeten eingelassen. Auch die originale Verfliesung und der Wasserhahn, wo der Schlauch zum Ausspritzen nach jeder Hinrichtung angeschlossen war, ist noch da. Heute wird in dem gespenstischen Raum der vielen Opfer der NS-Justiz gedacht. „Niemals vergessen – seid wachsam!“, steht auf einer großen Messingtafel. Wie im Diensttagebuch des Oberpfarrers Eduard Köck vor 78 Jahren mit krakeliger Handschrift sind die Namen jetzt in goldenen Lettern aufgelistet. Darunter Stefan Rambausch oder Leopold Hadaček. Der Name Franz Doms fehlt bis heute. Er und die beiden Mörder sind die Einzigen aus der Liste der neunzehn Todeskandidaten vom 7. Februar 1944, an die nicht erinnert wird. Homosexualität war genau wie Mord sowohl vor als auch nach dem NS-Terror strafbar, die jeweiligen Gesetze waren keine Erfindung der Nazis und die Urteile – so der Gedanke – daher kein Unrecht im eigentlichen Sinn.

Schwule Männer, die überlebt haben, wurden 1945 nicht etwa vielfach befreit, sondern einfach von den Vernichtungslagern direkt wieder in Gefängnisse überstellt, um dort ihre Reststrafen abzusitzen. Nazi-Urteile hin oder her, Schwulsein war ein Verbrechen.

In der Zweiten Republik wurde nicht nur der § 129, „Unzucht wider die Natur“, unverändert übernommen, es wurde auch die Verfolgungspraxis der Nazis einfach fortgesetzt, obwohl es die davor gar nicht in der Form gegeben hatte. Galt vor den Nazis vielfach der Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“, wurde ab 1938 aktiv verfolgt, spioniert und ausgeforscht. Da es dank der Nazis die nötigen Strukturen dafür schon gab, wurden die auch nach 1945 weiter genutzt. – Hätte Franz Doms überlebt, wäre er sehr wahrscheinlich noch mehrfach von denselben Polizeibeamten verhaftet und denselben Staatsanwälten und Richtern verurteilt worden. Wie viele Tausende andere Männer auch.

Erst im Jahr 1971 wurde das Totalverbot von Homosexualität unter Bruno Kreisky und Justizminister Christian Broda aufgehoben. Franz Doms wäre 50 Jahre alt gewesen. 83 Jahre alt hätte er werden müssen, um 2005 offiziell als NS-Opfer anerkannt zu werden. Die erste offizielle Entschuldigung eines Regierungsmitgliedes durch Justizministerin Alma Zadić für die Verfolgung Homosexueller in der Zweiten Republik hätte er letztes Jahr als 99-Jähriger wohl nicht mehr erlebt.

Die Namen von Franz Doms und vielen anderen schwulen, lesbischen, bisexuellen oder transidenten Menschen müssen endlich aus dem Vergessen geholt werden. Queere Menschen entscheiden sich nicht für Widerstand, dennoch betreiben sie ihn aktiv. Franz Doms ist ein Vorbild, ein Held. Ehre ALLEN Opfern!