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1938 und die Lehren der Geschichte

Der 13. März 2018 – der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland jährte sich zum 80. Mal. Zu diesem denkwürdigen Datum lud der Linzer Gemeinderat den Philosophen Konrad Paul Liessmann zu einem vielbeachteten Vortrag über die Schatten der Vergangenheit und die Versuchungen der Gegenwart.

Von Konrad Paul Liessmann

Grauen des Nationalsozialismus: Hitler am Hauptplatz in Linz
Foto: Archiv der Stadt Linz

Was bedeutet es, uns der dramatischen und in der Folge furchtbaren Ereignisse der Märztage des Jahres 1938 zu erinnern und ihrer zu gedenken? 80 Jahre, nachdem Adolf Hitler den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündete, ist diese Erinnerung kein individueller Akt mehr, sondern Ausdruck einer kollektiven Gemeinschaft. Erinnern, im individuellen und kollektiven Sinn, bedeutet mehr, als Daten aus einem Archiv, einem Gedächtnisspeicher zu holen. Erinnerungen: Was dem individuellen Bewusstsein eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, wird für das kollektive Gedächtnis zu einem Problem seiner Selbstvergewisserung. Dem Einzelnen steigen die Erinnerungen aus seinem Gedächtnis auf, Bilder, Worte, Gerüche, Farben, Töne, alles aus einem Fundus des selbst Erlebten und Erfahrenen, meist ungenau, manchmal höchst willkürlich und assoziativ, selten gezielt und bewusst. Die Erinnerungen des Subjekts sind Fundstücke aus jenen ungeordneten Beständen eines Gedächtnisspeichers, dessen Tiefe und Genauigkeit letztlich unbekannt ist.

Erinnerungsarbeit als individuelles Unterfangen bedeutet so immer auch, nach Verfahren und Hilfsmitteln zu suchen, die es dem Gedächtnis besser erlauben, das preiszugeben, was in ihm schlummern mag. Die Konfrontation mit Erscheinungsformen der Vergangenheit in der Gegenwart fungiert so nicht selten als ein Motor der Erinnerung: ein Foto aus vergangenen Tagen, die Begegnung mit einem längst vergessenen Jugendfreund, das Innehalten an einem Ort, an dem man vor Jahren schon einmal gewesen war, das Abhören eines Tondokuments, auf dem die eigene Stimme aus der Vergangenheit Worte spricht, die man schon längst vergessen hatte, und nicht zuletzt die Konfrontation mit öffentlichen Deutungen der Geschichte, die die eigene Erinnerung zu bestätigen oder zu widerlegen scheinen.

Kein Gedächtnis funktioniert ohne Anker, und keine Erinnerung steigt auf, die nicht Ausdruck und Resultat komplexer und einander ergänzender Strategien des Bewahrens und Vergessens ist. Über diese fragile und höchst unzuverlässige Koordination von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen gewinnen Individuen allerdings ihre Identität. Dass man den Menschen aus vergangenen Tagen, der anders aussah, anders dachte, anders fühlte, nicht als einen Fremden empfindet, sondern als denjenigen, der man selbst vor Jahren oder Jahrzehnten tatsächlich gewesen war, hat allerdings eine ordnende Kraft zur Voraussetzung, die die Fragmente der Erinnerung und die Dokumente der Vergangenheit bündelt und auf einen Punkt konzentriert: das Ich. Ohne dieses Ich verlöre alle Erinnerung nicht nur ihren Bezugspunkt, sondern hörte auch auf, Auskunft über die Vergangenheit eines Menschen zu geben. Umgekehrt verschwindet jedes Identitätsgefühl, wenn das Gedächtnis aussetzt.

Was aber entspricht diesem „Ich“, das Erinnerung überhaupt erst plausibel werden lassen kann, beim sogenannten „kollektiven Gedächtnis“? Die Analogien, die Begriffe wie „kollektives Gedächtnis“ oder „kollektive Erinnerung“ zum Erinnerungsvermögen des Subjekts nahelegen, vernachlässigen in der Regel die dabei auftretenden methodischen Fragen. Denn von einem solchen kollektiven Gedächtnis könnte im strengen Sinn nur dann gesprochen werden, wenn es ein dem Subjekt analoges Prinzip der Gemeinschaftlichkeit gäbe, ein seiner selbst bewusstes Kollektiv, das dieses Gedächtnis organisiert. Solche immer wieder entworfenen Modelle kollektiver Bewusstseinszustände, wie sie etwa den Konstrukten einer „Volksseele“, eines „Volksgeistes“ oder eines „kollektiven Unbewussten“ zugrunde lagen, lassen sich jedoch ohne schlechte metaphysische Voraussetzungen nicht aufrechterhalten. Die Gemeinschaft, das „Wir“, das kollektive Erinnerungen so zu bündeln wüsste wie ein individuelles Ich, hat im Erleben der Menschen kaum eine andere Entsprechung als das Gefühl eines vagen Dazugehörens. Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, kann zwar an vielen Momenten einer Lebensführung abgelesen werden – wie Sprache, Religion, soziale Stellung, Hautfarbe, Geschlecht, Mode oder ästhetische Präferenz –, Teil einer gemeinsamen Erinnerungsgeschichte zu sein, erfordert aber mehr: eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung, an dieser Erinnerungsgeschichte, die eben nicht oder nicht mehr die eigene ist, auch teilhaben zu wollen.

Während sich das subjektive Gedächtnis durch eine Mischung aus Erinnern und Vergessen unmittelbar aktualisiert, muss um das kollektive Gedächtnis aber immer gerungen werden. Da sich dieses kollektive Gedächtnis über Geschichten bildet, die erst erzählt und durchgesetzt werden müssen, ist es überhaupt nur als Resultat von historischer Forschung und Erinnerungspolitik denkbar. Es sind politische Einsichten, historische Erkenntnisse, moralische Überzeugungen und mediale Vermittlungen, die darüber mitbestimmen, welche Ereignisse der Vergangenheit wie erinnert werden können oder erinnert werden sollen. Und überall dort, wo aus politischen, moralischen oder ökonomischen Gründen Gemeinschaften ihre Gestalt verändern, muss auch die „Geschichte“ dementsprechend neu formuliert werden. Es lohnt sich deshalb, dass jede Generation ihr Verhältnis zu Ereignissen der Geschichte wie den Anschluss am 13. März 1938 neu definiert und ihre Fragen an diese Ereignisse stellt. Geschichte ist nie fertig geschrieben, und sie schreibt sich immer wieder – wenn auch auf Basis der historischen Forschungen und ihrer Ergebnisse –, zumindest in Nuancen immer wieder neu.

Man erinnere sich etwa, welche Fragen im „Bedenkjahr 1988“ und in den Folgejahren die Auseinandersetzung um den März 1938 bestimmten. Die damals vorgenommene Revision der zentralen Topoi der politischen Selbstdeutung Österreichs lässt sich so wahrscheinlich am deutlichsten in der heftig und kontrovers diskutierten Transformation der „Opferthese“ über den „Opfermythos“ zur „Lebenslüge“ demonstrieren. Blenden wir kurz zurück: Die nach 1945 zu einer offiziösen Staatsdoktrin verdichtete „Opferthese“ besagte, dass Österreich das erste Opfer der gewalttätigen Expansionspolitik des nationalsozialistischen Deutschland gewesen sei. Diese These, die das Selbstverständnis der jungen Zweiten Republik grundierte, wurde in einem ersten kritischen Rückblick als ein Mythos entlarvt, der eine Geschichte erzählte, die so nie stattgefunden hatte: die Geschichte von Österreich und seinen Bewohnern als den unschuldigen Opfern eines fremden Tyrannen. Und ein in seinen moralischen Ansprüchen geschärfter Blick interpretierte diesen Mythos dann als die österreichische Lebenslüge par excellence: Die Opferthese wurde nun als Strategie eines zynischen Selbstbetrugs dechiffriert, der es erlaubt hatte, sich nicht nur einer Realität zu verweigern, sondern sich damit auch, wie die Formel lautet, aus der Verantwortung zu stehlen. Dieser Transformationsprozess signalisierte also auch einen nachhaltigen Paradigmenwandel im politischen Diskurs: Weniger die Rekonstruktion der Ereignisse, auch nicht deren narrative Implementierung in das allgemeine Bewusstsein, als vielmehr deren moralische Bewertung rückte in den Vordergrund.

Die Heftigkeit, mit der die Frage, ob Österreich durch den Einmarsch der deutschen Truppen im März 38 zu einem Opfer des Nationalsozialismus geworden war oder durch die Beteiligung von Österreichern am 2. Weltkrieg und an den Verbrechen des 3. Reiches auch, ja vorrangig Täter gewesen war und welche Konsequenzen daraus zu ziehen gewesen wären, noch mehr als ein halbes Jahrhundert nach diesen Ereignissen diskutiert wurde, hatte nicht nur, aber vielleicht auch mit der Neubewertung des Opferbegriffs im politisch-moralischen Diskurs zu tun. Die Betrachtung komplexer geschichtlicher Ereignisse allein unter der Täter/Opfer-Perspektive verengt und verstellt nicht nur den Blick auf diese, sondern mit der eindeutigen moralischen Konnotation dieser Kategorien mutiert der Kampf der Erinnerung zur mitunter nahezu obszönen Frage, wer überhaupt den nun so begehrenswerten Status des Opfers für sich beanspruchen darf. Erst unter diesem Blickwinkel wird die Behauptung, dass Österreich ein Opfer Hitlers gewesen sei, fast indiskutabel. Sowohl die jubelnden Massen am Heldenplatz als auch die unbestritten überproportional hohe Beteiligung von Österreichern an den Verbrechen des Dritten Reiches scheinen es zu verbieten, diesem Land das moralisch hoch valorisierte Prädikat des Opfers zuzuerkennen.

Wohlgemerkt: Es geht bei all dem nicht um Ereignisgeschichte, nicht um die Frage, was wirklich geschehen ist, sondern um die Bewertungen, Deutungen und Begrifflichkeiten, mit denen diese Ereignisse im kollektiven Gedächtnis versehen werden können. Was sich lange als Erfolgsgeschichte dargestellt hatte, erschien unter geänderter Erzählperspektive plötzlich als kollektives Versagen.

Zur Erinnerung:

Es waren die Außenminister der Alliierten, die aus nicht ganz uneigennützigen Interessen am 1. November 1943 in der „Moskauer Deklaration“ Österreich konzediert hatten, durch den „Anschluss“ von 1938 das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein und, damit verbunden, die Wiedergewinnung der Eigenstaatlichkeit in Aussicht gestellt hatten, vorausgesetzt, die Österreicher würden einen Beitrag zu ihrer Befreiung vom NS-Regime leisten. Aufgrund dieser Erklärung bekam Österreich durch den Staatsvertrag mit den Alliierten 1955 seine volle Souveränität zurück, was dem Land eine weitere Besetzung durch alliierte Truppen ebenso ersparte wie eine mögliche Teilung im Zuge des Kalten Krieges. Keine Frage, dass die Politiker der ersten Stunde der 2. Republik die angebotene Opferthese aufgriffen, weil sie das darin liegende Potenzial für die Wiedererrichtung des österreichischen Staates erkannten. Dass der eigene Beitrag zur Befreiung eher marginal geblieben war, änderte daran ebenso wenig wie die Tatsache, dass viele nationalsozialistisch gesinnte Österreicher diese Befreiung als traumatische Niederlage erlebt hatten. Die geopolitische Situation nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der beginnende Kalte Krieg ließen vollends die Frage der österreichischen Eigenstaatlichkeit als einen Stein im Spiel der Supermächte erscheinen, durch die die Frage moralischer Verantwortlichkeiten auch aus der Perspektive der Siegermächte marginalisiert wurde. Nach einer ersten Phase der Entnazifizierung betrachtete die Zweite Republik damit offenbar aber auch die Frage nach der Mitschuld von Österreichern an nationalsozialistischen Verbrechen für erledigt und widmete sich dem, was man den Wiederaufbau nannte.

In diesem Diskurs über die Opfer- oder Täterperspektive wurde nicht nur über die Bewertung der Vergangenheit entschieden, sondern auch über die Frage, wie die Gegenwart aus der Perspektive der Vergangenheit gedeutet werden muss. Und die Frage, was vom März 1938 zu erzählen ist, ob hier ein Staat gewaltsam okkupiert oder ein Volk sich freudig einem Führer in die Arme geworfen hat, entscheidet unter anderem darüber, zu welchem „Österreich“ man sich glaubte bekennen zu müssen. Die „Lebenslüge“ – also das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein – avancierte zum Negativ-Mythos der Zweiten Republik. Manchmal wurde und wird suggeriert, dass die Opferthese als kurzfristige politische Taktik der Alliierten von den schuldverstrickten Österreichern hätte abgewehrt werden müssen. Umgekehrt verstand und versteht sich politische Aufklärung deshalb auch als Kampf gegen diese Lebenslüge, als Aufforderung, der Wahrheit der eigenen Vergangenheit ins Auge zu sehen. Die Heftigkeit dieser Debatten war allerdings bis zu einem gewissen Grad in der Vertracktheit der Historie selbst fundiert. Denn erst die Opferthese oder ihre Widerlegung schaffen Eindeutigkeit dort, wo die Geschichte selbst uneindeutig war. Völkerrechtlich gesehen kann Österreich wahrscheinlich als der erste Staat betrachtet werden, der zum Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik wurde – wäre sich Hitler sicher gewesen, dass sich die Mehrheit der Österreicher in der von Schuschnigg angedachten Abstimmung zum Deutschen Reich bekennen würde, hätte er nicht diese Abstimmung durch den Einmarsch verhindert. Heute mehren sich die Forschungsergebnisse, die davon ausgehen, dass bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit der Österreicher gegen einen Anschluss und für ein souveränes austrofaschistisches Österreich gestimmt hätte – nicht für die Demokratie, die stand bei diesen Ereignissen nicht mehr zur Debatte. Allerdings erlaubt die komplizierte Dramaturgie der Ereignisse vom März 1938 nicht einmal diesen Sachverhalt mit letzter Eindeutigkeit zu bestimmen.

Die Opferthese schuf in dieser Angelegenheit nicht nur die erwünschte Eindeutigkeit, sondern verdeckte damit auch die Tatsache, dass sehr viele Österreicher den Anschluss – übrigens aus unterschiedlichen Motiven – durchaus gewollt hatten, dass noch mehr nach dem Anschluss begeisterte Nazis wurden, und es nicht zuletzt auch die Schuld des autoritären Ständestaates gewesen war, dass einer breiten Koalition gegen den Nationalsozialismus keine Chance gegeben wurde. Die Dekonstruktion der „Opferthese“ zum „Opfermythos“ und zur „Lebenslüge“ schuf ihrerseits wiederum eine Eindeutigkeit: Österreich als enthusiastischer Komplize Hitlers und seiner Verbrechen. Diese Lesart übersieht aber ihrerseits, dass es gegen den Anschluss bis zuletzt auch vehementen Widerstand gegeben hat, dass aber unter den Bedingungen dieser Tage ein militärischer Widerstand wohl sinn- und verantwortungslos gewesen wäre; und sie übersieht, dass die breite Zustimmung zum Anschluss nicht gleichbedeutend mit der Zustimmung zum Regime der Nazis gewesen sein muss. Gerade das Votum der Sozialdemokraten für den Anschluss entsprach ihrer seit 1918 verfolgten Perspektive, die die Zukunft Österreichs immer in einem größeren Deutschland hatte sehen wollen, und die deshalb bereit war, den Nationalsozialismus in diesem Zusammenhang als Übergangsphänomen in Kauf zu nehmen. Die Läuterung der Sozialdemokratischen zu österreichischen Patrioten kann so auch als Produkt des Anschlusses und als Ergebnis von dessen verheerenden Konsequenzen gedeutet werden.

Die Auseinandersetzung um die Frage, ob Österreich „Opfer“ oder „Täter“ war, verweist allerdings auch auf ein kategoriales Problem, das eine aus dem Geist der politischen Moral motivierte Erzählung der Vergangenheit nur schwer in den Griff bekommen kann: die Differenz zwischen Österreich als staatlichem Akteur und Österreich als Synonym für die Taten und Untaten der auf dem Gebiet dieses Staates lebenden Menschen. Schließt man sich der gängigen Deutung an, dass der Staat Österreich völkerrechtswidrig von Hitler annektiert worden war – wenn auch nur die UdSSR und Mexiko dagegen protestiert hatten –, dann hörte Österreich als staatliches Subjekt in diesem Moment auf zu existieren. Es ist also müßig, ein „Österreich“ im staatsrechtlichen Sinne als mitverantwortlich für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu machen. Anders verhält es sich mit den Österreichern, die in ihrer Biographie sowohl Bürger der Habsburgermonarchie, der Ersten Republik, dann des Ständestaates, dann des Dritten Reiches und schließlich der Zweiten Republik gewesen waren und die an Verbrechen zu Hause und in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten beteiligt waren. Als Individuen wurden sie – allerdings nur zum Teil – zur Verantwortung gezogen; die Zweite Republik, 1945 neugegründet, musste und durfte sich mit diesen Verbrechen als Staat nicht identifizieren. Sehr wohl aber hätte es die Kontinuität des Staatsvolkes der jungen Republik ermöglicht, moralisch jene Verantwortung für die Untaten von Österreichern zu übernehmen, zu der die Repräsentanten der Zweiten Republik erst sehr spät bereit gewesen waren.

Aktuell dominiert eine differenzierte Betrachtung dieser Ereignisse, die den unübersichtlichen und komplexen Verläufen dieser Tage gerecht werden will, auch wenn moralisch bedeutsame Fragen wie die nach dem persönlichen Mut und Einsatz etwa von Kurt Schuschnigg oder nach der Möglichkeit des Bundesheeres zum Widerstand immer wieder aufflammen. Aber nicht die politische und moralische Bewertung von Handlungen der beteiligten Akteure stehen heute im Zentrum der Überlegungen, sondern die Frage, ob und welche Lehren sich aus der Geschichte des März 1938 ziehen lassen. Kann sich in der Geschichte etwas wiederholen? Könnten wieder politische Konzepte um sich greifen, die ein mörderisches Unrechtsregime an die Macht bringen würden? Sind in Entwicklungen und Phänomenen unserer Gegenwart womöglich die ersten Anzeichen einer neuen verhängnisvollen Entwicklung schon spürbar – man denke an die Reden von der Krise der Demokratie, vom Aufschwung des Rechtspopulismus, von einer Renationalisierung Europas, von der Zunahme politisch negativer Emotionen und Affekte etwa in den sozialen Netzwerken? Man muss in solchen Fragen vorsichtig sein. Traut man einem Wort von Karl Marx, nach dem sich zwar in der Geschichte alles zweimal ereigne, einmal aber als Tragödie und einmal als Farce, dann bliebe für ein Verhängnis wie das des Jahres 1938 nur die Farce übrig. So einfach dürfen wir es uns aber nicht machen. Vielmehr käme es darauf an, zu betrachten, inwiefern politische Konzepte, Ideologien, kollektive Gefühlslagen und Stimmungen, die die Politik jener Tage charakterisierten, noch bedeutsam sind oder wieder an Bedeutsamkeit erlangen könnten.

Ich versuche nun – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige Faktoren zu identifizieren, die für den März 1938 und den Anschluss maßgeblich waren, und befrage sie auf ihr Gefahrenpotenzial in der Gegenwart:

1 Die nationalistische Versuchung:

Der Nationalismus, der das Zerfallsprodukt der Habsburgermonarchie, das sich im November 1918 als Republik Deutsch-Österreich hatte gründen wollen, in jenes Anschluss-Ausschluss-Trauma stürzte, das zwischen der Sehnsucht nach dem Aufgehen in einem größeren Ganzen und dem Versuch der Selbstfindung und Selbstbehauptung verhängnisvoll oszillierte, hatte zweifellos den Boden für den März 1938 bereitet. Das Konzept des Nationalismus, wie es im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, provoziert immer die Frage nach einer ethnisch-sprachlichen Homogenität und Hegemonie, die andere Formen von Zugehörigkeiten nur schwer ertragen kann. Das Anschluss-Ausschluss-Trauma dürfte aktuell allerdings keine Rolle mehr spielen, der Deutschnationalismus stellt in Österreich sicher bis auf weiteres keine mehrheitsfähige ideologische Position dar. Keine Frage allerdings, dass der Nationalismus generell noch immer nicht überwunden ist und wir in mancherlei Hinsicht in Europa Tendenzen der Renationalisierung verspüren. Allerdings erscheint es sinnvoll, zwischen Nation in einem staatsrechtlichen Sinn und der Nation als ideologischem Konstrukt zu unterscheiden. Und auch der Beobachtung mancher Zeitdiagnostiker ist Rechnung zu tragen, dass der aktuelle Nationalismus anders als der des 19. und 20. Jahrhunderts nicht aggressiv expandierend, sondern aggressiv abschottend agiert, es also ein defensiver Nationalismus ist, der in Europa eher zu Zerfallserscheinungen – Schottland, Katalonien, Belgien, Norditalien, die Nachfolgestaaten der UdSSR und Jugoslawiens – führte und führt, denn zu Großreichfantasien. Die Grenze zwischen Nationalismus und einem starken Bewusstsein von Regionalität ist dabei ebenso im Auge zu behalten wie die Gefahr, dass die notwendige Überwindung des Nationalismus in Europa nicht durch dessen Transformation in einen europäischen Hypernationalismus – die EU gleichsam als neue Supernation – gelingen kann. Hier ist Wachsamkeit geboten!

2 Die antisemitische Versuchung:

Hitler konnte auf zahlreiche antisemitische Haltungen, Traditionen und Einstellungen zurückgreifen, die im christlich-katholischen Denken ebenso vorhanden waren wie im Protestantismus, in den damals modernen sozialdarwinistischen Lehren ebenso wie in manchen Segmenten der Kultur. Diese diskriminierenden Einstellungen und Praktiken in ein Massenvernichtungsprogramm transformiert zu haben, zeichnet allerdings die Besonderheit der Nazis aus. Der Kampf gegen den Antisemitismus bleibt nicht nur aufgrund dieser historischen Erfahrung ein zentrales Moment einer menschenrechtlich orientierten Politik. Und zwar ohne Ausnahmen und Relativierungen – gleichgültig, ob es sich um einen Antisemitismus von rechts oder von links, einen Antisemitismus deutschnationaler Burschenschaften oder einen islamisch inspirierten Antisemitismus handelt. Allerdings ist auch daran zu erinnern, dass die Verfolgung bestimmter Menschengruppen, die zur Logik totalitärer Herrschaftsformen gehört, nicht an religiöse und ethnische Merkmale gebunden sein muss. Der Philosoph Theodor W. Adorno, ein selbst zur Emigration gezwungener Jude, hatte einmal darauf hingewiesen, dass unter der Perspektive einer – übrigens auch von den Nazis vertretenen – Ideologie der Jugend, der Kraft und der Gesundheit die Kranken und Alten im großen Maßstab zu den Ausgegrenzten, Verfolgten, womöglich auch Vernichteten der nahen Zukunft gehören könnten.

3 Die imperiale Versuchung:

Die Schmach der Niederlage des ersten Weltkriegs zu tilgen und dem Deutschen Reich wieder Weltgeltung zu verschaffen – dieses Versprechen Hitlers korrespondierte mit dem Gefühl kollektiver Demütigung, auch wenn es in erste Linie nicht Revanche-Gelüste gewesen sein mögen, die die Menschen in den Märztagen 1938 auf die Straßen trieb. Aber das Bewusstsein, nun wieder Teil einer dominanten Kultur zu sein und Herrschaftsansprüche durchzusetzen, zeigte sich sofort und an manchen Orten und in vielen Organisationen schon vor dem offiziellen Anschluss. Keine Frage, Österreich hat keine imperialen Ambitionen mehr, und zu den Großen und Mächtigen gehören zu wollen, erfüllt viele eher mit Unbehagen. Aber die Gedankenfigur, dass man nur als Imperium im Konzert der globalen Mächte mitspielen kann, dass also nur ein nicht nur ökonomisch, sondern auch ein politisch und militärisch starkes Europa im Wettkampf mit den USA, China, Russland mithalten kann, gehört durchaus zu den Überlegungen, die den Prozess der europäischen Einigung aktuell begleiten. Bei allem Verständnis für den realpolitischen Gehalt dieser Konzepte ist vor deren Abgleiten in einen imperialen Gestus, dessen Konsequenzen nicht absehbar sind, zu warnen.

4 Die ökonomische Versuchung:

Hitler versprach das, was viele versprechen: Arbeit, einen bescheidenen Wohlstand, die Beendigung der Folgen der Krisen, und in vielen Bereichen – Verkehr, Infrastruktur, Mobilität, Technologie – schlicht den Fortschritt. Das sollte uns generell vorsichtig stimmen. Technischer Fortschritt alleine garantiert ebenso wenig eine humane Gesellschaft wie ökonomische Prosperität. Heute wäre China ein Beispiel dafür. Dazu kommt, dass manche Fantasien, wie sie in den Zentralen der Internet-Konzerne gesponnen werden, in ihren transhumanistisch geprägten Optimierungsvarianten genug Gedankengut enthalten, das auch den Züchtungs- und Selektionsphantasmen der Nationalsozialisten zugrunde lag. Schlimm, dass sich etwa die Frage nach lebenswerten und nichtlebenswerten Formen menschlicher Existenz in Feldern wie etwa den Sterbehilfedebatten relativ ungeniert wieder eingeschlichen hat. Wer einen Lebensbilanzsuizid ins Auge fasst, hat sich, wenn auch aus individuellen Gründen, bis zu einem gewissen Grad ebenso der Ideologie der Nationalsozialisten angenähert wie jene, die „liberale“ Euthanasieprogramme propagieren. Manche Dinge werden nicht besser, nur weil für ihre Durchsetzung nicht eine Diktatur, sondern der Markt eingesetzt wird.

5 Die Versuchung des Erfolgs:

Hitler und die NSDAP waren – in den Augen der Zeitgenossen – scheinbar höchst erfolgreich. Das betraf die Ökonomie so gut wie die internationale Politik: Die Wirtschaft wurde durch die Aufrüstungspläne belebt, die Olympischen Spiele des Jahres 1936 hatten dem NS-Staat internationale Reputation verschafft und angesichts der immer aggressiveren Forderungen Hitlers verharrte die internationale Politik in Untätigkeit. Die Reaktionen auf den Anschluss Österreichs bestätigten dies nur. Und nichts ist so attraktiv wie der Erfolg. Der Erfolg scheint jedem rechtzugeben. Für heute bedeutet dies: Auch den Erfolgen von politischen Bewegungen, Denkweisen, Technologien, ökonomischen Konzepten, Innovationen gegenüber sollten wir immer die Option einer abwägenden Skepsis bereithalten; jubelnde Zustimmung birgt stets die Gefahr der Kurzsichtigkeit, ja Blindheit in sich. Gerade angesichts von Entwicklungen, die uns als unausweichlich, als Notwendigkeit präsentiert werden, sollte sich die Fähigkeit zur Kritik erweisen. Widerstand ist immer Widerstand gegen den Zeitgeist und seine Implikationen. 1938, man darf es nicht vergessen, repräsentierte der Faschismus in weiten Teilen Europas den Zeitgeist. Dieser allein stellt noch keine politische oder moralische Qualität dar.

6 Die totalitäre Versuchung:

Die rasche und offenbar ohne großen Widerstand errichtete Herrschaft des NS-Regimes wirft immer wieder Fragen nach der Bedrohung der Demokratie durch die totalitäre Versuchung auf. Waren es nicht die Menschen selbst, die in Deutschland durch Wahlen, in Österreich durch den Jubel auf den Straßen, diese Herrschaft ermöglicht und befürwortet hatten? Haben die Menschen das gewollt und sich dieser Herrschaft auch bereitwillig unterworfen oder mussten sie vom Regime mit Gewalt dazu gezwungen werden? Und muss nicht deshalb vor einem Populismus gewarnt werden, der unter dem Deckmantel der direkten Demokratie eine Emotionalisierung der Politik und eine Spaltung der Gesellschaft verfolgt? Die historischen Erfahrungen zeigen allerdings, dass rechtsradikale und faschistische Gruppierungen nirgendwo durch freie Wahlen an die Macht gekommen sind. Mussolini musste putschen, Franco einen grausamen Bürgerkrieg führen und in Deutschland gaben bei der letzten regulären Wahl im November 1932 gerade 33 % ihre Stimme der NSDAP.

Bei den schon unter dem Terror der SA stattfindenden Wahlen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im März 1933 kam die NSDAP auf 43,9 %. Keine Mehrheit! Und dass Hitler in Österreich eine Abstimmung scheute, spricht ebenfalls dafür, dass die Nazis dem Volk nicht trauten. Erst das Bündnis mit großen Teilen der Industrie, des Militärs, der Kirchen und auch der Wissenschaft, erst die Gier, die Korrumpierbarkeit, die Skrupellosigkeit und der Opportunismus der politischen, ökonomischen und intellektuellen Eliten ermöglichte die Etablierung einer flächendeckenden Herrschaft der NSDAP. Offensiv und brutal betrieben die Nazis allerdings nach der Machtergreifung bzw. nach dem Anschluss eine Politik der Gleichschaltung, der Verfolgung und Vernichtung von Menschen aus politischen und rassistischen Gründen und die Infiltrierung aller Lebensbereiche im Sinne ihrer Ideologie. Sie konnten dabei in zunehmendem Maße auf die Zustimmung weiter Kreise der Bevölkerung rechnen. Im Sinne Hannah Arendts bedeutete Totalitarismus nicht nur eine Diktatur, die sich mit Gewalt und Terror behaupten musste, sondern ein Herrschafts- und Gesellschaftssystem, das sich in hohem Maße auf die Affirmation und Komplizenschaft der Menschen verlassen konnte. Totalitarismus bedeutet die umfassende Kontrolle bei gleichzeitiger affektiver und intellektueller Zustimmung zu dieser Kontrolle, nicht zuletzt, weil fast jeder Bürger nicht nur kontrolliert wurde, sondern auch das Gefühl vermittelt bekam, selbst Kontrolleur und damit Teilhaber an der Macht zu sein. Das Denunziantentum wurde forciert, das Blockwartdenken triumphierte.

Die totalitäre Versuchung stellt nicht nur stets eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte dar, sie wandelt – und das muss uns besonders vorsichtig stimmen – immer wieder auch ihre Gestalt. Während wir – zurecht – autoritäre und nationalistische Tendenzen unserer Gesellschaft kritisieren und bekämpfen, dürfen wir nicht übersehen, dass die Disposition zur totalitären Versuchung auch an anderen Stellen lauern könnte, weil sie vielleicht zur Anlage des Menschen selbst gehört. Der französische Philosoph Étienne de la Boétie, der im 16. Jahrhundert lebte und ein enger Freund von Michel de Montaigne war, hat einen noch immer lesenswerten Essay über die „freiwillige Knechtschaft des Menschen“ geschrieben. Darin heißt es: „Wie kommt der Tyrann zur Macht über euch, wenn nicht durch euch selbst? Wie würde er es wagen, euch zu verfolgen, wenn ihr nicht einverstanden wärt?“ Und der Philosoph Günther Anders, der vor den Nazis fliehen musste, formulierte die These, dass der Totalitarismus der nahen Zukunft durch den Herrschaftsantritt der Maschinen und Automaten und die dadurch bedingte Entmündigung der Menschen gekennzeichnet sein wird. Freiwillig unterwerfen wir uns den Algorithmen unserer digitalen Apparate, ohne zu bemerken, wie unser Leben dadurch und durch die damit verbundenen ökonomischen und politischen Interessen gesteuert wird. Dass Demokratie obsolet ist und durch die Herrschaft der Internet-Giganten ersetzt werde sollte, wird von manchen Konzernchefs im Silicon Valley offensiv propagiert. Der Soziologe Harald Welzer spricht davon, dass die Digitalisierung all unserer Lebensbereiche „Übergangszonen ins Totalitäre“ ermöglicht, die in eine „smarte Diktatur“ führen könnten – kaum bemerkt und mit großer Zustimmung von uns allen.

Was lehrt uns die Geschichte? Wenn es uns darum geht, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen und auszubauen, müssen wir wachsam und vorsichtig in vielen Richtungen sein. Letztlich schützen nur die Stärkung des Individuums, die Verteidigung der Freiheit des Einzelnen, die Sensibilität gegen alle Formen von Vereinnahmung und Gleichschaltung, die unbedingte Achtung der Menschenrechte und die Mündigkeit und Souveränität der Bürger vor der totalitären Versuchung, der so viele Österreicher im März des Jahres 1938 erlegen waren.