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Cancel Culture zwischen verkürzten Argumenten und legitimem Aktivismus?

Tessa Sima

Die mannigfaltigen Krisenerscheinungen des 21. Jahrhunderts (z.B. Finanz-, Migrations- oder Corona-Krise) verstärkten soziale Ungleichheiten. Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnizität oder Religion ist alltäglich. Daher ist der Bedeutungsgewinn von Social-Media-Aktivismus wenig verwunderlich: Marginalisierte Gruppen nutzen Plattformen wie Twitter oder Facebook, um soziale Ungerechtigkeiten breit zu kommunizieren und Verantwortliche unmittelbar zur Rechenschaft zu ziehen.

Dieses Vorgehen wird als canceln bezeichnet und hat u.a. erfolgreich Eliten aus Politik, Wirtschaft, Kultur, aber auch Wissenschaft unter Druck gesetzt (z.B. #metoo oder #blacklivesmatter). Potenziell führt dieses Vorgehen also zur Ermächtigung von Opfern oder Benachteiligten, unterbindet die Reproduktion von Ungerechtigkeiten und reinigt den öffentlichen Diskurs von problematischen Akteur*innen oder Inhalten.

Warum also hat die Cancel Culture eine negative Konnotation? Sind deliberative Demokratien doch auf aktive Bürger*innen angewiesen, die am öffentlichen Diskurs teilhaben, gesellschaftliche Probleme identifizieren und mittels faktischer Argumente schädliche Diskurselemente entfernen (Habermas).

Der für diesen Diskurs notwendige Möglichkeitsraum hat sich aber sukzessive verengt: Einerseits forcierten politisch meist rechts verortete Kräfte mittels populistischer Rhetorik eine absolute „Wir gegen Sie“-Logik, die emotionalisiert und das faktische Argument verdrängt. Andererseits etablierte sich, insbesondere in politisch links orientierten progressiven Kreisen, eine dogmatische Kultur des politisch Korrekten, deren moralische Fundierung auch bei komplexen Sachfragen unhinterfragbar wirkt. Was einzelne Akteur*innen aber als korrekt verstehen, bleibt im Social Media gestützten Meinungsaustausch meist unspezifisch und bietet Konfliktpotenzial innerhalb progressiver Gruppen.

Und hier zeigt sich das Problem der Cancel Culture: Ohne diskursives Ausverhandeln von Positionen droht die Gefahr, dass eine Cancelation auf das oft unterstellte „Lynchen“ von Individuen reduziert wird, aber die dahinterliegenden legitimen Anliegen von marginalisierten Personengruppen von dem Spektakel inhaltlich verengter Social-Media-Konflikte verdrängt werden. Was schlussendlich auch verhindert, dass die eingangs angesprochenen sozialen Ungerechtigkeiten eine Aufarbeitung erfahren. Und genau dieser Diskurs wäre für Gesellschaften zentral, da er das Potenzial für soziale Kohäsion schaffen könnte.