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Das große Taumeln

Der Angriffskrieg Russlands erschüttert Europa. Man hätte es besser wissen können. Viele Jahre haben wir Wohlstand mit Demokratie verwechselt und hatten kein Problem mit illiberalen Politikern. Nun erfahren wir schmerzhaft, dass es so nicht weitergehen kann. Ein Essay.

Von Claus Pándi

ILLUSTRATION: BETTINA WILLNAUER
ILLUSTRATION: BETTINA WILLNAUER

Höderlins Adler sind tot[1]. Europas erschöpfter Gesellschaft fehlen Kraft und Auftrieb, um sich in die Flughöhe zur rechten Übersicht zu schwingen. Das gegenwärtige Bemühen um ein klares Bewusstsein der Bedeutungen von Wahrheit, Wirklichkeit und (cartesianischer)[2] Freiheit gleicht dem Flattern von Schwalben vor dem Regen. Aus dieser Perspektive ergeben sich Vexierbilder, die von formellen und informellen Deutungsinstanzen als Instantikonen in sinusmilieugerechten Adaptionen massenmediale Verbreitung finden. Die Notizen zur geistigen Situation der Zeit [3]verlieren sich damit zwangsläufig im Jargon des Ungefähren der vorherrschenden epochalen Verwirrung. Es ist ein großes Taumeln: Wo schon alles gedacht wurde, führt das Umkreisen der bereits seit den Denkern der Antike gemachten Erfahrungen zu einer immer größeren Entfernung von längst gewonnenen Erkenntnissen. Die Verdrängung, wie sie Jean Paul in seinem naiven Satz, dass „die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem uns niemand vertreiben kann“, beschrieben beziehungsweise empfohlen hat, ist eine mächtigere Kraft als die Lehren aus den Taten.

Der Historiker und Publizist Joachim Fest zog schon aus seiner Hitler-Biografie einen zentralen Schluss: „Die Aufklärung hat ein positives, ein optimistisches Menschenbild gegeben“,[4] demnach gebe es das Böse nicht, sondern das Böse sei nur Unglück, das aus falscher Erziehung rühre oder seine Wurzeln in falschen sozialen Verhältnissen habe. Darin liege aber der große Irrtum der Aufklärung. Hitler war, so Fest, „eine Art Widerruf der Aufklärung“. Das wurde damals nicht, das wird in der Gegenwart nicht zur Kenntnis genommen.

An dieser Stelle müsste nun ausführlicher auf Hannah Arendt [5]eingegangen werden. Es reicht allerdings die bloße Nennung des großen Namens als Referenz. Arendt mit ihren klar artikulierten und argumentierten Positionen steht wie ein Denkmal gegenüber einer zeitgenössischen intellektuellen Elite, die sich in schöngeistigem L’art pour l’art verloren hat. Radikales Denken, wie es bei Jean Baudrillard heißt, besteht heute, um in Baudrillards Diktion zu bleiben, in Simulakren einer teilweise gerade noch extravaganten Ästhetik. Raum findet sie noch bei Literaten wie Michel Houellebecq oder Emmanuel Carrère, die unter Berufung auf ihren Beruf des Schriftstellers das Unsagbare schreiben und sich damit Anfeindungen einigermaßen entziehen können.

Die geistige und finanzielle Entkräftung der traditionellen Medien, die Problematik der Desinformation der verwirrten Herde,[6] auf die Noam Chomsky schon vor dem Siegeszug der sozialen Medien und den Erfolgen von Cambridge Analytica und den Trump/ Bannon-Methoden hingewiesen hat, tragen ihren Anteil an der Demoralisierung. Diese gesellschaftlich und politisch fatale Entwicklung durch die fortschreitende Entkoppelung der Medien von ihrem Publikum beschrieb die Journalistin und langjährige Mitherausgeberin der „Vogue“, Joan Didion (1934–2003), mit der drastischen Pointe, dass sie beim Konsum vieler (amerikanischer) Zeitungen beinahe vom Gefühl erfasst werde, dass die Sauerstoffzufuhr zu ihrem Gehirn unterbrochen werde. Gemeint hat Didion damit vor allem die Langeweile der Zeitungen, die nicht mehr direkt zu ihr sprechen würden.[7] Da fügt es sich ins Bild, dass hochverehrte zeitgenössische Denker in hoch angesehenen Publikationen dem globalen Kollektiv der Desorientierten unfreiwillig die Absolution erteilen. So posierte Bernard- Henri Lévy im blauen Anzug und mit schick umgebundenem Schal in den ersten Kriegswochen zwischen den Trümmern von Odessa und entlastete die bewusst oder unbewusst mit Scham aufgeladene europäische Elite mit der rhetorischen Figur, dass ein Gerhard Schröder die „neue deutsche Unanständigkeit“ [8]repräsentiere. Jürgen Habermas eilte einige Wochen später dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz mit einem Essay [9]voll eleganter Ratlosigkeit zur Seite und vergaß gleich einmal darauf, ein paar europäische Kriege der vergangenen Jahrzehnte zu erwähnen, um, so darf angenommen werden, das Trugbild vom europäischen Frieden nicht zu beschädigen.

Die europäische Idee wurde mit viel zu großen Vorstellungen überladen

Diese beiden Beispiele enthüllen das gesamte Elend der europäischen Arroganz, die uns dorthin geführt hat, wo wir nun stehen. Europas Kriege wurden an die Peripherie der tatsächlichen und geistigen Räume Europas gedrängt, wie das auch der bulgarische Autor Ilija Trojanow[10] festgestellt hat. Spätestens seit dem Krieg in Jugoslawien hätte das wertlose Gerede vom Friedensraum Europa verschwinden müssen[11]. Ist es aber nicht. Stattdessen wurde die europäische Idee mit Vorstellungen überladen. Man ist mit Ideen wie den „Vereinigten Staaten von Europa“ weit vorangekommen – und hat dabei die Felder der realeren und dringenden Problem e hinter sich gelassen.

Das polyphone Europa, die Vielfalt und das kulturelle Kapital eines vom Nazireich diskreditierten und wiederauferstandenen Europas, das als ein romantisches Projekt mit elegischem Abschiedsschmerz, als ein bestauntes „Exerzitium der Nostalgie“[12] konserviert wird, verliert seine Wurzeln. Das neue intellektuelle Standardmaß des Postnationalen hat die Renaissance des kleinstmöglichen Heimatgefühls evoziert. Europas kleinmütige Großplaner betrachteten mehr als drei Jahrzehnte lang ihre Projektionen an der weißen Wand, während der Sturm an den Fenstern im Rücken längst heftig rüttelte.

Die Anziehungskraft der Fiktion wirkt stärker als die Kraft der Realität der Zeitenwenden, die mit 9/11, der Finanzkrise 2007 und der Flüchtlingskrise 2015/2016 schon längst eingetreten waren. Von politischem und ökonomischem Vampirismus moralisch ermüdet, gingen die Eliten Bündnisse ein mit den in neuen Gewändern auftretenden Gespenstern der Vergangenheit. In allegorischer Erkennbarkeit schmiegten sich westliche Staatsmänner nicht nur im übertragenen Sinne an Wladimir Put in, als könnte durch Nähe und Berührung in der Demokratie verloren gegangene Potenz wiedergewonnen werden.

Der Rückspiegel, der das Böse abbilden könnte, ist blind, die neuen Objekte näher als gedacht, die daraus gezogenen Schlüsse entsprechend. So erlebt der Krieg Russlands gegen die Ukraine eine Überhöhung zu einem Kampf der Systeme Autokratie gegen Demokratie. Abgesehen von der bitteren Ironie, dass die lange verachtete oder ignorierte Ukraine und deren Führung über Nacht vom sogenannten Westen zu einem Symbol für Größe gemacht wurde, wird damit die nächste selbstgestellte Falle bereitgestellt: Die Vorstellung, dass die Attraktion der liberalen Demokratie an den Strapazen des überdehnten Liberalismus[13] gescheitert sein könnte, bleibt konsequent unter dem erforderlichen Maß bedacht.

Illiberale Politiker versprechen, komplexe Verhältnisse wieder zu vereinfachen

Zu wenig bedacht wird zudem, dass es durch jahrzehntelange Fehlkonditionierung durch fehlgeleitetes Bewusstsein zu einer Verwechslung von Demokratie und Wohlstand gekommen ist. Die Folgen für die sehr realistische Möglichkeit einer Demokratie ohne Wohlstand rückt demokratisch orientierte Politiker „unter Realitätsstress in andere Kraftfelder“.[14] Die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“ muss unter dem Druck der veränderten Situation mit neuen Illusionen aufgeladen werden. „Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wissen wir: Die Einführung von Marktwirtschaft und Kapitalismus bringt nicht Demokratie hervor. Wachstum und wirtschaftliche Liberalisierung führen nicht zwingend zu politischer Liberalisierung. Es kann auch in die andere Richtung gehen“, [15]schreibt Gérard Roland, der belgische Ökonom und Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaften an der University of California in Berkely.

Der nicht ausschließlich auf Manipulation zurückzuführende Erfolg zweifelhafter politischer Führungspersönlichkeiten hätte eine Warnung sein können. Statt konsequent nach den Ursachen für den Aufstieg Illiberaler zu forschen, die zumeist unter dem Rubrum „diffuse Ängste“ subsumiert werden, konzentrierte man sich auf einen hybriden Mechanismus des pragmatisch-kritischen Auskommens mit den neue n Führern. Dabei beruht einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren dieser neuen Diktatorengeneration keineswegs auf einer perversen Sehnsucht der Völker nach Unterdrückung, sondern auf dem Bedürfnis nach der Vereinfachung einer zu komplexen Welt, die als ungerecht empfunden wird, weil sie ungerecht ist.

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist unabhängig von seiner Dauer und seinem Ausgang das Menetekel für eine Epoche der Klärung von jahrzehntelang an die Ränder des Realen gedrängten Konflikten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der große Lügner unserer Zeit, Wladimir Putin, der ultimative Macht als das versteht, was sie ist, nämlich exzessive Gewalt, die Wahrheit gebracht hat. An einem zum jetzigen Zeitpunkt nicht datierbaren Wendepunkt, eingeleitet nicht durch Einsicht, sondern durch Erschöpfung und Depression, wird eine neue Blütezeit der Kartografen die veränderten Machtverhältnisse abbilden. Es wird anders sein und zugleich wie immer, oder wie Byung-Chul Han in seiner „Topologie der Gewalt“ erklärt: Gewalt verschwindet nie, sondern sie erscheint in veränderter Gestalt, adaptiert je nachdem wie die gesellschaftliche Konstellation ihre Erscheinungsform verändert hat.[16] Es werden neue Visionen einer Ordnung entstehen, die den nachkommenden Generationen Halt bis zum nächsten Kipppunkt geben können. Diese Permanenz vergleicht Barbara Tuchman mit dem Artusroman, in dem die Tafelrunde von innen heraus zerbricht, das Schwert in die See zurückkehrt und die Geschichte von neuem beginnt.[17]

 

[1] Der Satz nimmt den Gedanken von Jürgen Osterhammel „Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart“, C.H. Beck, München 2017 auf. Osterhammel bezieht sich dabei auf die Adler- Gedichte von Friedrich Hölderlin, in denen die Frage aufgeworfen wird, wie hoch man sich in die Luft erheben muss, um den richtigen Überblick zu erlangen.

[2] Jean-Paul Sartre verweist in seinem Essay über die cartesianische Freiheit (zitiert aus „Situationen“, Rowohlt 1956) auf die Freiheit „des autonomen Denkens, das aus eigener Kraft erfassbare Beziehungen zwischen bereits bestehenden Wesenheiten entdeckt“.

[3] 1931 verfasste Karl Jaspersvin der Sammlung Göschen eine Analyse von geistigen Tendenzen und Bewegungen über das Lebensgefühl und das Denken in der damaligen Zeit. 1979 gab Jürgen Habermas, an Jaspers anknüpfend,  „Stichworte zur ‚Geistigen Situation‘ der Zeit“ in zwei Bänden in der Edition Suhrkamp heraus.

[4] Joachim Fest im Gespräch mit Roger Willemsen in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, ZDF, 2.2.2003.

[5] Es kann an dieser Stelle nicht auf alle Publikationen von Hannah Arendt eingegangen werden. Der Autor möchte aber allen mit Arendts Werk nicht vertrauten Studierenden und Lehrenden „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ ans Herz legen – und bei dieser Gelegenheit allen Interessierten auch den in diesem Beitrag nicht erwähnten Viktor Klemperer mit „LTI – Notizbuch eines Philologen“.

[6] In „Necessary Illusions. Thought Control in Democratic Societies“, Anansi, Toronto 1991, verweist Noam Chomsky unter anderem auf die Problematik, dass sich die Medien vor allem in außenpolitischer Hinsicht nicht als Kritiker, sondern als Partner der Regierungen verstehen.

[7] Joan Didion, „Alicia and the Underground Press“, Saturday Evening Post, 1968.

[8] Bernard-Henri Lévy im Gespräch mit Iris Radisch in „Die Zeit“, 31.3.2022.

[9] Jürgen Habermas leitete seinen Essay „Krieg und Empörung“ in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 29.4.2022 mit folgendem Satz ein: „Nach 77 Jahren ohne Krieg und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt.“ Die digitale Version wurde, wie die Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ vermerkte, „nachträglich präzisiert“: „77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt.“

[10][10] Ilija Trojanow im „profil“, 15.4.2022: „Mir fällt es sehr schwer, nachzuvollziehen, wie man einen Krieg in Europa schlimmer finden kann als einen, der am Rand des Kontinents stattfindet.“

[11] Peter Handke im Gespräch mit Hubert Patterer und Stefan Winkler in der „Kleinen Zeitung“, 10.4.2022, auf die Frage zum Friedensraum Europa: „Der ist schon mit Jugoslawien verschwunden, der Friedensraum. Das Gerede war nie was wert.“

[12] Aus der Rede „Die europäische Idee (Noch eine Elegie)“ von Susan Sontag, gehalten in Berlin im Mai 1988.  Deutschsprachige Erstveröffentlichung im „Literaturmagazin“, Bd. 22/Sonderband „Ein Traum von Europa“, Rowohlt Verlag, Reinbek 1988.

[13] Patrick J. Deneen hat in seinem Buch „Why Liberalism Failed“, Yale University Press, New Haven – London 2018, über den Liberalismus geschrieben, dass dieser gescheitert ist, weil er siegte. Eine der Ursachen sieht Deneen darin, dass der Liberalismus zu titanischer Ungleichheit und damit zu einem materiellen und geistigen Verfall und der Unterhöhlung der Freiheit führte.

[14] Peter Sloterdijk in „Welt am Sonntag“, 10.4.2022.

[15] Gérard Roland im Gespräch mit Christoph Eisenring und Thomas Fuster in „Neue Zürcher Zeitung“, 19.4.2022.

[16] Byung-Chul Han, „Topologie der Gewalt“, Matthes & Seitz, Berlin 2013.

[17] Barbara Tuchman, „Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert“. Übersetzt von Ulrich Leschak und Malte Friedrich, Claassen, Düsseldorf 1980.