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Der richtige Ton

Ein Kind mit Hörbeeinträchtigung stellt für viele Eltern die Welt erst mal auf den Kopf. Eine neue Studie will die Entwicklung der Kinder umfassend begleiten und so herausfinden, was das Beste für sie ist.

Von Katharina Kropshofer

Die Nachricht erreicht Klaras* Eltern erst mal wie ein Schlag ins Gesicht: Ziemlich sicher schwerhörig, vermutlich an der Taubheitsgrenze – das zeigt die Untersuchung nach auffälligem Neugeborenen-Hörscreening kurz nach der Geburt ihrer Tochter. Klara wird mit Hörgeräten versorgt, etwa ein Jahr später folgt der Einsatz eines Cochlea-Implantats. „Man rechnet nicht damit, vor allem, wenn man niemanden mit Hörbeeinträchtigung in der Familie hat“, sagt Klaras Mutter heute. „Doch dann versteht man, dass viele Kinder so auf die Welt kommen und es sehr viel Angebot gibt.“ * Name geändert

Zwei von tausend Neugeborenen in Österreich sind in irgendeiner Form von Schwerhörigkeit betroffen. So wie viele Kinder, die in Oberösterreich auf die Welt kommen, wird Klara nach ihrer Geburt ins Familienzentrierte Linzer Interventions-Programm FLIP am Institut für Sinnes- und Sprachneurologie des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder aufgenommen. Für sie alle gilt: Je früher man ihre Beeinträchtigung erkennt und beginnt, sie entsprechend zu behandeln, desto besser stehen die Chancen, auf das Niveau von Gleichaltrigen zu kommen, wenn es um Spracherwerb, Lesen oder Schreiben geht.

Doch das war nicht immer so: Als Johannes Fellinger, heute Primar des Instituts, begann, als junger Arzt am Krankenhaus zu arbeiten, kursierten noch Sätze wie „Patient ist taubstumm, Anamnese kann nicht aufgenommen werden“. Um den Betroffenen die adäquate Behandlung nicht weiter zu verwehren, begann Fellinger, Gebärdensprache anzubieten – etwas, das er zu Hause gelernt hatte, um mit seinem tauben Vater zu kommunizieren. Die Info über den gebärdenden Doktor machte die Runde und das Krankenhaus wurde bald zu einem bekannten Zentrum für schwerhörige Patient*innen.

30 Jahre später gehen die Expert*innen rund um Fellinger und seinen Kollegen Daniel Holzinger, Klinischer Linguist am Institut, einen Schritt weiter: Sie wollen möglichst alle Kinder mit Hörbeeinträchtigung, die in Oberösterreich zur Welt kommen, im Rahmen der Studie „AChild“ (kurz für „Austrian Children with Hearing Impairment“) erfassen. Die Studie entsteht in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Entwicklungsmedizin der Johannes Kepler Universität Linz und wird von der Firma MED-EL gesponsert, die jedoch nicht interveniert. Über die folgenden Jahre wollen sie so mehr über ihre Entwicklung erfahren.

Breite ist das wichtigste Stichwort, wenn es um die Studie geht. Kinder mit verschiedensten Formen und Ausprägungen von Hörbeeinträchtigungen werden einbezogen. Pro Jahr sind das etwa 30 bis 50 neue Kinder, die dazukommen, erklärt Fellinger. Und die Gruppe wächst ständig. Die Breite bezieht sich auch auf die Zeit: Die Kinder werden das erste Mal mit wenigen Monaten und dann über einen Zeitraum von sechs Jahren begleitet und regelmäßig untersucht. Außerdem gilt die Breite, wenn es um die erhobenen Daten geht. Genetische Tests (insofern diese von den Eltern gewünscht sind) geben mehr Infos über die genaue Diagnose, dazu kommen audiologische Daten, aber auch jene zu Sprachentwicklung, psychosozialer Gesundheit, Stressbelastung, Lebensqualität und anderen Beeinträchtigungen.

Ausreichend Hirnnahrung

Das ist die Stärke der Studie. Denn bisher wurden Kinder mit anderen Beeinträchtigungen, Entwicklungsproblemen oder auch mehrsprachige Kinder in vergleichbaren Studien oft nicht inkludiert. Das sei zu kompliziert, wurde argumentiert. „Wir wissen heute, dass sich zum Beispiel auch leichte oder einseitige Hörschädigungen auf das Lernen oder die Stressbelastung auswirken können“, sagt Fellinger. Deshalb soll bei „AChild“ kein Kind von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Die Teilnahmerate von 95 Prozent der Eltern spreche für sich, sagt auch Studienleiter Daniel Holzinger. Für ihn geht es neben der Entwicklung der Sprache auch um psychische Gesundheit oder gesundes Lernen. „Wir brauchen Sprache auch, um nichtsprachliche Dinge, zum Beispiel unsere Impulse, zu steuern“, so der Klinische Linguist.

Kinder sollen nicht nur wöchentlich zu ihren Therapieeinheiten bei Logopäd*innen und Co. gehen, sondern täglich und auf natürliche Art zu kommunizieren lernen. Deshalb spielen vor allem Eltern eine besondere Rolle: „Manchmal passiert es, dass Eltern viel für ihre Kinder sprechen. Das Kind merkt das und kommuniziert weniger aktiv. Stattdessen sollen sie darauf achten, was das Kind von sich gibt, darauf reagieren und den Ball wieder rasch zurückwerfen“, sagt Holzinger.

Um die Qualität und Quantität dieser Konversation auswerten zu können, nützen die Experten das sogenannte LENA-System, kurz für „Language Environment Analysis“. Auf den ersten Blick schaut das komisch aus: Eine kleine Jacke mit einer seitlich offenen Tasche auf der Brust, darin ein handgroßes, viereckiges Aufnahmegerät. Doch das unscheinbare Gerät kann viel: Es zeichnet Sprache auf und erkennt, ob sie aus der Distanz kommt oder direkt an das Kind gerichtet wird. Auch Infos über Medienverwendung werden aufgenommen. Eine Dauerbeschallung durch Radio oder Fernsehen schadet der Hörwahrnehmung und Sprachentwicklung von Kindern mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten. Und LENA kann zählen, wie viele Wörter ein Kind pro Tag hört. Besonderer Wert wird auf sogenannte Hin-und-Her-Dialoge gelegt. Daniel Holzinger gibt ein Beispiel: „Das Kind macht ‚ü-ü‘ und die Mutter sagt ‚Tatü, tatü, da kommt die Feuerwehr‘.“ Es gebe Belege, dass kleine Dialoge im zweiten Lebensjahr nicht nur die Sprachentwicklung, sondern auch die nonverbale Intelligenz und soziale Entwicklung verbessern. Holzinger nennt diese responsive Kommunikation Hirnnahrung.

Erfolgsgeschichten machen Mut

Während der Auswertung werden auch Therapeut*innen herangezogen. Sie geben den Eltern Tipps rund um förderliche Interaktion. Die Eltern werden von den Mitarbeiter*innen aktiv inkludiert. Sie bekommen etwa Fragebögen zu lesen, bevor sie finalisiert werden, und können Formulierungen überprüfen. An der Schnittstelle zwischen Eltern und dem Institut steht auch Daiva Müllegger. Ihre Tochter wurde im Frühinterventionszentrum betreut. „Ich war eine der Mamas, die viele Fragen gestellt haben“, sagt die Elternvertreterin. Sie hat eine Ausbildung zur psychologischen Beraterin absolviert und will den AChild-Teilnehmer*innen beratend zur Seite stehen und betroffene Familien zusammenbringen. Eltern rufen sie an, um zu verstehen, was gewisse Dinge für Kind und Familie bedeuten. Müllegger trägt dann Infos an die Studienleiter zurück. „Ich höre oft von Eltern, dass die Fragebögen bei der Eigenreflexion helfen. Man kann einschätzen, wo das eigene Kind steht.“ Auch Klaras Mutter bestätigt, dass die Fragebögen viel Sinn machen. Besonders die Entwicklungskontrollen helfen der Familie.

„Wenn man viele Erfolgsgeschichten hört, geht man davon aus, dass es bei einem selbst auch klappt. Es wird einem Angst genommen“, sagt sie. Die Motivation, das System zu verbessern und so in Zukunft auch anderen zu helfen, ist dabei für viele Familien groß. Ein Grund, wieso die Zusammenarbeit so gut funktioniere, sagt auch Primar Fellinger: „Für uns stehen Würde und Bedenken der Eltern noch über den Zielen der Studie.“

Klara ist nun 17 Monate alt und macht gerade erste Laute. Doch bevor es überhaupt so weit war, konnte sie gebärden. Im Rahmen des Frühinterventionsprogrammes absolvierten Klaras Eltern einen eigenen Kurs für die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS). Bei einem Teil der Kinder mit Cochlea-Implantat klappt der Spracherwerb nicht reibungslos, manche Familien entscheiden sich bewusst gegen ein Implantat. Für einige Kinder mit Hörbeeinträchtigung ist deshalb nicht Deutsch, sondern ÖGS die Muttersprache. „Die Kinder sollen auf ein kommunikatives Niveau kommen, das ihrem nonverbalen Denken entspricht“, sagt Holzinger. „Dabei ist zweitrangig, ob das durch Lautsprache oder Gebärdensprache passiert.“ Auch gehörlose Mitarbeiter*innen gehören zum Team. Denn von Gebärdensprache profitiere jede*r, sagt auch Primar Fellinger. „Gebärdensprache ist eine Lokomotive für die Sprachentwicklung. Wir sehen keinen Widerspruch darin, beides zu fördern.“

Während das Gebärden für Klaras Familie und das Team rund um die Linzer Ärzte selbstverständlich ist, war die Akzeptanz hierfür lange nicht gegeben – gerade, wenn es um Bildung geht: Erst in den 1970ern und 1980ern begannen einzelne Stimmen, die monolinguale – also auf Lautsprache fokussierte – Phase der Gehörlosenpädagogik aufzubrechen, schreibt Verena Krausneker, Gebärdensprachenforscherin der Universität Wien. Hörbehinderte Menschen besuchten bis dahin meist Sonderschulen. Heute hat sich einiges zum Besseren verändert: Sobald Kinder mit Hörbeeinträchtigung ins Schulalter kommen, sollte ein bimodal-bilingualer Unterricht auf sie warten, erklärt Barbara Hager, die an der Universität Wien zu Gebärdensprachpädagogik forscht und selbst gehörlos ist. Bimodal-bilingual bedeutet, dass eine Lautsprache oder ihre geschriebene Form sowie eine Gebärdensprache gleichwertig zum Einsatz kommen. Es gebe auch Studien, die zeigen, dass Kinder, die bilingual aufwachsen, immer einen Vorteil in der Sprachentwicklung haben.

„Eigentlich müsste von den Schulen immer das Angebot bestehen, in ÖGS zu unterrichten“, sagt Hager. Davon würden auch hörende oder schwerhörige Kinder profitieren, die stark visuell veranlagt sind. „Natürlich sollen hörende Kinder freiwillig entscheiden, ob sie gebärden wollen. Aber man kann von tauben Kindern nicht verlangen, dass sie sprechen.“ Die meisten Schulen in Österreich hinken hier weiterhin nach. In Wien gebe es nur zwei Volksschulen mit bimodal- bilingualem Angebot. Hagers Vermutung ist, dass viele Kinder mit Hörbeeinträchtigung schlichtweg in Klassen integriert werden, die sich an Lautsprache orientieren.

Doch Kinder, die schlechter hören, haben im Schul- und Pubertätsalter doppelt so viele Probleme als Gleichaltrige, die vollständig hören, erklärt Johannes Fellinger. Bis zur Inklusion, sofern diese gewünscht ist, gibt es also noch einiges zu tun. „Wir Guthörende machen uns schuldig, wenn wir durcheinanderreden und keine Rücksicht auf Menschen mit Hörbeeinträchtigung nehmen. Wir müssen Sprache so gestalten, dass sie für alle zugänglich ist“, sagt Fellinger. #

Das kennt auch Barbara Hager: „Wenn ich früher in großen Gruppen war, habe ich einfach ausgehalten, dass ich nicht alles verstanden habe.“ Heute weiß sie, dass Gebärdensprachen viel mit Kultur zu tun haben. „Kinder sollen Gleichgesinnte treffen, um sich nicht allein und isoliert zu fühlen. Sie müssen ihre Identität entwickeln, um zu lernen, mit ihren Emotionen umzugehen.“ Eine umfassende Begleitung, wie sie durch „AChild“ geplant ist, könnte dafür ein erster Schritt sein.