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Die beste Tumorzelle ist eine tote Tumorzelle

Seit Jahresbeginn forscht, lehrt und behandelt der deutsche Top-Onkologe Clemens Schmitt als Professor an der Linzer Kepler-Uni. Seine Arbeit könnte die Krebstherapie maßgeblich verändern und die Rückfallquote senken.

Von Markus Staudinger

iStock

Es ist niederschmetternd: Man hat den Kampf aufgenommen, ausgefochten und vermeintlich gewonnen – und wird letztlich doch wieder mit der Diagnose Krebs konfrontiert.

Die furchtbare Erfahrung eines Rückfalls wird leider nicht wenigen Krebspatientinnen und -patienten zuteil. Manche machen ihr Schicksal öffentlich, wie die deutsche Moderatorin Miriam Pielhau, die ihren Brustkrebs überwunden glaubte und acht Jahre später an den Folgen einer neuerlichen Krebserkrankung im Alter von 41 Jahren starb. Andere suchen in der privaten Geborgenheit den Umgang mit einer Realität, die unerträglich scheint.

Ursachen für eine Wiederkehr von Krebs gibt es viele – diese zu bekämpfen, daran arbeitet Professor Clemens Schmitt an der Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Universität in Linz. Der Mediziner hat den Lehrstuhl für Hämatologie und internistische Onkologie inne und leitet die gleichnamige Klinik am Kepler- Universitätsklinikum. In Linz setzt der international anerkannte Top-Onkologe jene Arbeit fort, die er zuletzt an der Berliner Charité geleistet hat.

Schmitts Forschungen haben das Potenzial, die Krebstherapie maßgeblich zu verändern und so die Rückfallquote bei Krebserkrankungen zu senken. Im Wesentlichen geht es darum, unmittelbar auf eine erste Therapielinie – etwa eine Chemotherapie –, die Tumorzellen breitflächig entfernen soll, einen Zweitschlag folgen zu lassen. Dieser soll spezifisch auf so genannte seneszente Zellen, die einen Rückfall auslösen können, abzielen.

„Abräumen“: die erste Therapielinie

Schauen wir uns diesen Gedankengang im Detail an:

Schritt eins jeglicher klinischen Krebstherapie ist es, mit möglichst wenig Schädigung des Normalgewebes möglichst viele Tumorzellen zu töten. „Hier gibt es auch keinen Spielraum für alternative Ideen“, sagt Schmitt. „Wir wollen Tumormasse eliminieren. Das ist immer die erste Intention.“

„Quantitativ abräumen“, nennen das manche Onkologen auch – ob operativ, mittels Bestrahlung oder Chemotherapie.

Das klingt simpel und brachial – ist aber weder das eine noch das andere. Denn moderne Chemotherapie tötet Tumorzellen nicht einfach durch breitflächiges Zellgift (das würde auch zu viele gesunde Zellen treffen). Die Therapie versucht vielmehr, in den Tumorzellen Programme auszulösen, die jeder Zelle eingebaut sind: die Apoptose und die Seneszenz. Es handelt sich dabei um alltägliche Schutzmechanismen unseres Körpers.

Der Begriff Apoptose stammt aus dem Altgriechischen („apoptein“: abfallen) und steht für den programmierten Zelltod, die Selbstzerstörung der Zelle. Seneszenz hat ihre etymologischen Wurzeln im Lateinischen („senex“: Greis) und steht für ein Zellalterungsprogramm, das dazu führt, dass sich Zellen nicht mehr teilen.

Wenn es in den Zellen unseres Körpers zu bedrohlichen Veränderungen kommt, greifen diese Schutzprogramme ein und können die Gefahr meist ausschalten. Unterbleibt das, können sich bösartige Zellen – etwa Tumorzellen – ausbreiten.

Was macht die moderne Chemotherapie? Sie versucht, in Tumorzellen die Apoptose, die Selbstzerstörung, in Gang zu bringen. „Das Problem liegt aber darin, dass sich Tumoren ständig verändern – ob schon in der Entstehung oder unter Therapiedruck. Ein Teil dieser Veränderung trägt zu einer Resistenz einzelner Zellen gegenüber diesem Abtötungsmechanismus bei“, sagt Krebsforscher Schmitt in seinem Sprechzimmer der Abteilung für Hämatologie und Internistische Onkologie am Kepler-Universitätsklinikum.

Das Problem der „Schläfer-Zellen“

Wenn eine Tumorzelle apoptoseresistent ist, sich also auch unter Einsatz von Chemotherapie nicht selbst zerstört, „dann gibt es eine einzige ansteuerbare Alternative, die ebenfalls zu einem anhaltenden Vermehrungsstopp führt“, sagt Schmitt: nämlich die Seneszenz – die Selbstalterung – auszulösen und so der Zellreproduktion Einhalt zu gebieten. „Das ist das Rückversicherungsprogramm zur Apoptose“, sagt Schmitt. „Wenn das eine nicht greift, ist man froh, den anderen Mechanismus in der Hinterhand zu haben.“

In manchen Publikationen hat sich für seneszente Zellen der Begriff „Schläfer-Zellen“ eingebürgert, auch wenn das wissenschaftlich nicht ganz exakt ist.

Seneszenzauslösende Behandlung hat nachgewiesenermaßen einen tumorkontrollierenden und damit lebensverlängernden Effekt für tumorbetroffene Organismen. „An diesem Punkt könnten wir innehalten und sagen: Seneszenz ist wünschenswert und ein in der Therapie gezielt ansteuerbares Zellprogramm“, führt Schmitt aus. „Das Problem ist damit aber nicht gelöst.“ Denn eine auf Seneszenz abzielende Therapie hat nämlich auch ihre Schattenseite. Das haben Schmitt und ein Forscherteam um ihn in ihrer jüngsten Studie festgestellt.

Der 2018 in der Fachzeitschrift „Nature“ erschienene Beitrag stieß auf viel Beachtung. Seneszente Tumorzellen nehmen nämlich in manchen Fällen spontan wieder die Zellteilung auf und sind dann – wie in der Studie erstmals beschrieben – sogar viel gefährlicher als Tumorzellen, die vorher nicht im Seneszenz-Zustand waren.

Dies deswegen, weil die Zellen beim Wechsel in die Seneszenz epigenetisch massiv umprogrammiert werden. Bei seneszenten Tumorzellen stellte die Forschergruppe um Schmitt dabei unter anderem das Anschalten eines Stammzell-Programms fest, auch als „Tumor-Stemness“ bezeichnet.

Was passiert, wenn solche Zellen beginnen, sich wieder zu teilen? „Sie nehmen ihre Stammzellenfähigkeit mit und führen zu einer besonders aggressiven Rückfallerkrankung“, sagt Schmitt. Die Stammzellenfähigkeit bringt mit sich, dass diese Zellen Tumorwachstum massiv vorantreiben und sogar immer wieder neu starten können. So kann eine einzelne Krebsstammzelle prinzipiell einen kompletten Tumor herstellen.

„Die beste Tumorzelle ist daher eine tote Tumorzelle“, sagt Schmitt. „Seneszente Zellen sind zwar in einer frühen Phase der Therapie wünschenswert, aber längerfristig eben auch potenziell gefährlich.“

Die Forschung am Zweitschlag

Soll man auf Seneszenz abzielende Therapieformen daher bleiben lassen? „Nein“, sagt Schmitt. „Wir wollen durchaus weiterhin in jenen Zellen, die apoptoseresistent sind, Seneszenz auslösen.“ Die Alternative dazu wären aktive, sich vermehrende Tumorzellen – und das will man sicherlich nicht.

Man sollte aber gleich von Beginn an überlegen, wie man in einem zweiten Schritt diesen Rest an seneszenten Zellen eliminieren könne, schlägt Schmitt vor. Mithilfe der Seneszenz „weisen wir eine höchst aggressive Krebserkrankung zunächst in die Schranken“, sagt der Krebsforscher. „Zu glauben, dass das für immer halten wird, wäre aber in vielen Fällen naiv.“

Methoden zu finden, wie man gezielt seneszente Tumorzellen angreifen kann, ist der nächste Schritt in Schmitts Forschung. Er sieht dabei in der Reprogrammierung, die die Zelle beim Zustandswechsel in die Seneszenz durchläuft, gute Chancen. „Da werden ganz viele biologische Eigenschaften der Zellen verändert und mit den Veränderungen wiederum neue Verwundbarkeiten geschaffen“, sagt der Onkologe. Diese Verwundbarkeiten müsse man finden, erkennen und nutzen.

Als Oberbegriff für das selektive Ausschalten seneszenter Tumorzellen hat sich „Senolyse“ etabliert. „Die Verwundbarkeiten seneszenter Zellen bieten uns ein neues therapeutisches Fenster“, sagt Schmitt. „Dieses Fenster zu nutzen, also das therapeutische Potenzial der Senolyse klinisch zu prüfen, ist nach ermutigenden Daten aus dem Tiermodell ein logischer nächster Schritt.“

Seit Jänner 2019 betreibt Schmitt seine Forschungen in Linz. Er plant, mit einer solchen Doppeltherapie – zuerst Chemotherapie, dann Senolyse – eine klinische Studie aufzulegen, deren Ziel es wäre, die Rückfallquote bei einer so behandelten Krebsart signifikant zu senken. „Woher kommt denn die Rückfall-Erkrankung?“, sagt Schmitt. „Die kann ja nur aus den Restzellen kommen, die nach der ersten Therapielinie im Körper verbleiben.“ Derzeit könne man mit den Patientinnen und Patienten hoffen, dass sich daraus keine neuerliche Erkrankung entwickelt. „Das ist – je nach Tumorart – eine begründete oder leider unbegründete Hoffnung.“

Eine breitflächige Behandlung setzt derzeit erst wieder ein, wenn es tatsächlich zu einer klinisch sichtbaren Wiedererkrankung kommt. „Vielleicht wäre es aber zielführender, unmittelbar nach der ersten Therapielinie eine Second-Hit-Strategie zu verfolgen“, sagt Schmitt. Dieser Zweitschlag solle gezielt die geringe Masse an seneszenten bzw. ersttherapieveränderten Resttumorzellen an ihren besonderen Empfindlichkeiten treffen. „Das ist derzeit aber nicht hinreichend belegt – und eben Gegenstand unserer Forschung.“

Was Linz hat – und noch nicht hat

Meinhard Lukas, Rektor der Linzer Kepler- Universität, nennt Schmitt einen „Ausnahmeforscher“. Warum hat sich Schmitt, der in Berlin Direktor des molekularen Krebsforschungszentrums der Charité war, sich zum Schritt an die noch sehr junge medizinische Fakultät der Kepler-Uni entschlossen?

Er und seine Frau, eine Tumorbiologin, hätten ein halbes Jahr lang das Linzer Angebot abgewogen, erzählt Schmitt. „Je länger wir darüber nachdachten, desto klarer und positiver wurde das Bild von Linz.“ Hier gebe es noch keine festgefahrenen Strukturen, die immer eine Barriere für Spitzenforschung sein können. Dafür finde man an diesem Standort in den Bereichen Biophysik, Biotechnologie und Künstliche Intelligenz viele Anknüpfungspunkte, um Forschungsfelder zu entwickeln. Er habe den Eindruck, dass in Linz „viele Wege kürzer“ seien und „vieles schnell realisierbar“ sei. Auch die Nähe zu Wien sei ein Pluspunkt, weil er schon aus seiner Berliner Zeit Verbindungen zu Wiener Forschungseinrichtungen habe, die man nun intensivieren könne. „Ich glaube, dass wir so in Oberösterreich in relativ kurzer Zeit viel bewegen können“, sagt Schmitt.

Was fehlt noch in Linz, um seine Forschung vorantreiben zu können – budgetär oder an Infrastruktur?

„Die Möglichkeiten sind sehr gut“, sagt Schmitt. „Und es ist ja auch meine Aufgabe, die entsprechenden Strukturen mitzuetablieren.“ Einen wunden Punkt gäbe es dennoch: „Für unsere Forschungen brauchen wir auch Experimente an Tieren“, sagt Schmitt. In Berlin habe er den lebensverlängernden Aspekt einer Doppeltherapie an Mäusen erforscht. In Linz gebe es derzeit aber keine Basis für tierexperimentelle Untersuchungen. „Das schränkt unsere Arbeiten schon sehr ein“, sagt Schmitt.

Dieses Manko müsse man beheben. „Die Notwendigkeit von tierexperimenteller Forschung kann man gerade für die senolytische Tumortherapie gut begründen“, sagt Schmitt. „Hier spielen Tumorzellen, Normalgewebe und Immunsystem eng zusammen – das kann man einfach nicht allein in einer Zellkultur in der Petrischale untersuchen. Dort beobachtete Effekte – die wir ja sehr sorgfältig erfassen – wären für sich allein genommen zu weit von den tatsächlichen Effekten entfernt, wie sie im Patienten eintreten.“

„Keine überzogenen Hoffnungen wecken“

Womit wir von der zellmolekularen Forschung wieder zum Anwendungsgebiet von Schmitts Arbeit kommen: die Überlebenschancen von Krebspatientinnen und -patienten zu erhöhen. Im Gegensatz zu anderen Zweigen der Wissenschaft übersetzt sich Forschung in der Humanmedizin vergleichsweise rasch von der Theorie in die Praxis.

Zugleich sind die Emotionen, die Menschen daran koppeln, größer als in wohl jedem anderen Feld der Wissenschaft. Das gilt für die medizinische Forschung generell, für die Krebsforschung aber ganz besonders: Es geht um die Hoffnung auf das Überleben liebster Angehöriger, um die Verzweiflung bei Therapierückschlägen, um die Angst vor einer Rückkehr der oft tödlichen Krankheit.

Schmitt bittet daher um Behutsamkeit bei der Einordnung wissenschaftlicher Fortschritte. „Ich weiß, dass selbst grundlagenwissenschaftliche Forschungsaspekte von Patienten verständlicherweise oft als rettender Strohhalm aufgegriffen werden“, sagt der Mediziner. „Das möchte ich unbedingt vermeiden.“ Er betont, dass man sich in Linz gerade einmal in der Studienplanung befinde. Der Schritt, von der Grundlagenforschung im Labor bzw. an Tieren in die klinische Prüfung zu gehen, sei ein großer. Zudem gebe es etliche administrative und regulative Hürden.

„Und wenn wir hier in Linz Erfolg zeigen könnten, dann wäre das natürlich wissenschaftlich großartig und für die Patienten eine neue Perspektive.“ Doch auch in diesem Fall werde eine derart grundlegende Idee, anders als bisher mit verbliebenen Resttumorzellen umzugehen, Zeit brauchen, um in einer gewissen Breite zur Anwendung zu kommen. „Da braucht es auch weitere Studien, um zu einem Sichtwechsel in der klinischen Community zu kommen“, sagt Schmitt. „Wir reden hier insgesamt sicher von einem Jahrzehnt.“

In diesem Tempo funktioniere studien- und evidenzbasierte Forschung nun einmal, sagt Schmitt. Und das sei auch gut so. „Es ist natürlich auch im Interesse der Patienten, dass wir Dinge tun, von denen wir auch abgesichert sagen können, dass sie Patienten helfen.“