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Die gesellschaftliche Verantwortung der Universitäten

Wie unabhängig und widerstandsfähig sind unsere Unis? Vortrag auf einer Veranstaltung von JKU und Arbeiterkammer Oberösterreich zum 50. Geburtstag der JKU.

Von VON ARMIN THURNHER

Ein Rednerpult an einer Universität
Foto: ISTOCK/INHAUSCREATIVE

Drei Wörter wie drei Reibepunkte. Gesellschaft: gibt’s das noch? War da nicht eine bedeutende englische Zeitgenossin, die feststellte, „ There is no such thing as society?“ So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht? Das war Margaret Thatcher. Und Verantwortung, ist das nicht eines dieser Wieselwörter, an dem man leicht trägt, weil es nichts bedeutet? Friedrich August von Hayek hat ja „sozial“ als das Wieselwort par excellence bezeichnet.

Selbstverständlich gibt es Gesellschaft. Ich würde einmal sagen, das sind nicht nur alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sondern alle auf dem Territorium eines Staates Lebenden. Das macht den Begriff weit genug. Gesellschaft ist das, was nicht Staat ist, aber in der Demokratie nach gemeinsamem Ratschluss autonom festgelegt werden sollte.

Verantwortung übersetze ich in diesem Fall einfach mit „Aufgabe“. Denn die sogenannten Verantwortungsträger zeichnen sich dadurch aus, dass sie Verantwortung übernehmen, indem sie gehen, wenn etwas nicht gut ging. Das ist die landesübliche Bedeutung von Verantwortung. Sie haben die Verantwortung übernommen heißt, sie sind für nichts verantwortlich.

Und dann die Universität. Ein Ozean von Bedeutungen. Man kann so gut wie alle Größen der Geistesgeschichte als Kronzeugen bemühen. Das legt einem nahe, sie gleich beiseite zu lassen und bei sich selber anzufangen.

Gewiss, ich lehre das eine oder andere an einer zeitgemäßen Form von Universität, oder sollte man sagen, einer Schwundstufe von Universität?

Ich lehre nämlich an einer Fachhochschule. Und ich lehre an einer Universität, die einmal eine Hochschule war, an der Universität für Musik und darstellende Kunst. Dort trage ich in einem Postgraduate Kurs über die Geschichte der Medien vor. Ich versuche, werdenden Kulturmanagerinnen und -managern eine Idee zu geben, was Öffentlichkeit ist. An der Fachhochschule rede ich über Medienethik; eine Zeit lang hielt ich auch einen Kurs mit dem Titel „Sprache und Stil“.

Es war die hübsche Bezeichnung für einen Creative-Writing-Kurs, es sollte nicht mehr sein als Schreibübungen für junge Journalistinnen und Journalisten.

Ich nahm den Titel aber ernst und fragte mich, was das sei, Stil. Es endete damit, dass ich meinem studentischen Publikum erzählte, dass das Wort Stil eine lange Geschichte hat.

Die Geschichte des Stils kann man auch als Geschichte von Schreibgeräten, von medientechnischer Entwicklung erzählen, von der Wachstafel über Schriftrollen, Inkunabeln und dem Buchdruck zur digitalen Welt. Und Rhetorik, die Lehre, wie man richtig redet, ist von der Geschichte des Stils nicht zu trennen.

Die Rhetoren traten nämlich auf, als sich die Kunst der öffentlichen Rede professionalisierte. Die Fertigkeit, öffentlich zu reden, war in der frühen Demokratie der antiken Polis für jeden unerlässlich. Nicht jeder beherrschte sie (hier ist allein die männliche Form angebracht, da nur freie Männer an dieser Demokratie teilnehmen durften), also entwickelten sich in Arbeitsteilung professionelle Redner, die Sophisten.

Diesen widersetzten sich die Philosophen, aber ebenfalls in dialogischer Form. Die Redekunst beeinflusste in Rom die Juristen ebenso wie die Literaten; im Mittelalter bildete sie mit Grammatik und Dialektik die Grundlage der nun gegründeten Universitäten. In formalisierter Weise prägte sie die folgenden akademischen Jahrhunderte, erst in der Aufklärung verlor sie endgültig ihr Ansehen und verkam zu einer Manipulationstechnik.

Was ist Rhetorik? Und wozu dient sie: ein Argument überzeugend zu präsentieren, um ihm damit zu demokratischer Wirksamkeit zu verhelfen, oder der bloßen Überredung mittels Tricks?

Die Sophisten waren der Ansicht, ihre Kunst bestehe darin, zu zeigen, dass man allem und seinem Gegenteil zum Sieg verhelfen könne. Die Philosophen wiederum bekämpften diese Trickserei wütend. Denn für sie war die Fähigkeit, in freier Rede seine Sache zu vertreten, ein Zeichen der Freiheit; verdrehte man diese Fähigkeit zur Kunstfertigkeit, alles und sein Gegenteil beweisen zu können, war die Freiheit nicht mehr die Schwester der Wahrheit; der Lüge waren Tür und Tor geöffnet.

Der Gegensatz verfolgt uns bis heute: Hier die ernsthafte Rede, die versucht, öffentlich für eine Sache einzutreten. Dort der demagogische Missbrauch bis hin zum rhetorischen Taschenspielertrick, wie bei Donald Trump oder beim Präsidentschaftskandidaten Hofer. Hier der Versuch, vernünftig öffentliche Angelegenheiten zu argumentieren, dort der Versuch, sie zu manipulieren oder das öffentliche Gespräch zu zerstören. Hier wissenschaftliche Verfahrensweisen, die versuchen, sich der Wahrheit anzunähern, dort Behauptungen, die kraft ihrer Behauptungsfähigkeit – also mit Macht – festlegen, was wahr ist und was nicht.

Ein Journalist, der gleichsam hobbymäßig an Hochschulen zugange ist, hat einen anderen Blick auf die Sache als etwa eine Universitätslehrerin. Wie andere auch betrachte ich mit gesenktem Haupt die Rankings der Universitäten, in denen Wien weltweit den 161. Platz belegt, knapp vor Dresden und knapp hinter Münster, während Linz irgendwo zwischen Platz 400 und 500 liegt (genauer ist das nicht ausgewiesen).

Allerdings fällt mir auf, dass nicht gesellschaftliche Verantwortung das ist, was in solchen Rankings gemessen wird. Es geht um Zitierungen, auf Englisch natürlich, es geht um Reputation (Reputation schafft Reputation), es geht um aufgetriebene Geldmittel, kurz, es geht um Quantifizierung. Letztlich dienen solche Rankings der Zurichtung von Institutionen, die sich den Kriterien von Rankings anpassen.

Die dahinterstehenden Interessen bleiben unsichtbar. Es ist so wie beim Pisa-Test, einem Test, der nicht von einer Bildungs-, sondern einer Wirtschaftsinstitution installiert wurde, der OECD, der Organisation für Economic Development and Cooperation. Sie hat Interesse, ihre Kriterien durchzusetzen: Mathematik, Naturwissenschaften, harte Gegenstände, die der homo oeconomicus braucht. Der Pisa-Test testet nicht Bildung, sondern die Fähigkeit, den Pisa-Test zu bestehen. Meine eigenen Erfahrungen an der Universität waren enttäuschend und sie sind es noch. Wie Sie wissen, gehöre ich selbst generationsmäßig zur Kohorte der 68er, obwohl ich mit dieser Zurechnung meine Probleme habe. Nicht aber mit jener Seite der 1968er, die eine Universitätsreform einforderten, Mitbestimmung der Studentenschaft inklusive. Mein eigenes Motiv war die Enttäuschung über die Ordinarienuniversität, weniger was die Institution, als was die Personen betraf. Ich hatte mir Lehrer und Lehrerinnen erwartet, aber ich bekam mit ganz wenigen Ausnahmen Langeweiler.

Es gab Assistenten, die mich ermutigten, aber ich hatte Glück: Als ich zu einer Schrift zum 200-jährigen Jubiläum der Gründung des Burgtheaters beitragen sollte, wurde mir von oben klar bedeutet, hier hatte ich draußen zu bleiben. Meine akademische Karriere war beendet, ehe sie begonnen hatte.

Die beste Erfahrung meines Studiums war, als wir mithilfe einiger weniger Assistenten abseits des Lehrplans, aber auf dem Institut und unter Teilnahme der Lehrenden informelle Lehrveranstaltungen einrichteten und gemeinsam ästhetische Schriften lasen; ein befreundeter Philosoph wurde beigezogen, wenn die Hegel-Lektüre Schwierigkeiten machte. Dieses selbstorganisierte Lernen zu zehnt oder zu zwölft gehörte nicht nur zu den schönsten Erfahrungen, dafür arbeitete man auch gerne, selbst wenn man nicht mit einem Schein belohnt wurde.

Es mag romantisch klingen, aber ich hatte das Gefühl, in diesen Augenblicken gab mir die Universität Sinn. Weil wir uns autonom organisierten. Wir hatten das starke Gefühl, uns zu bilden. Uns Grundlagen zu verschaffen, die wir für unser Fach brauchten, aber nicht bekamen. Was natürlich neben der Uni in zahlreichen mehr oder weniger sinnvollen Arbeitskreisen geschah, die allesamt dem Kapital oder anderen kanonischen Schriften des Marxismus-Leninismus gewidmet waren.

Ich würde behaupten, die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit und Selbstorganisation sind bei einem Studium entscheidend. Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, wurde mir klar, als mich zu Zeiten des Unistreiks meine Studenten auf der FH höflich fragten, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn sie sich an den Protesten an der Uni beteiligten. Das muss einem erst einmal einfallen.

Ich sehe heute mitunter Vorlesungen, bei denen ein müder Herr oder eine abgekämpfte Dame hinter einem Laptop sitzt und vor einem vielhundertköpfigen Publikum etwas vom Schirm abliest, während hinter dem Kopf der Vortragenden Folien ablaufen. Es ist kaum ein Publikum, es ist eine müde gemachte Menge, es sind nicht einmal Studierende, die solches über sich ergehen lassen. Es sind angestrengte Arbeitskräfte.

Es gibt natürlich viele gute Universitätslehrerinnen und -lehrer, aber sie kommen, berichten sie mir, in ihrem Betrieb fast um. Wenn man mit Mittelschullehrern redet, hört man das gleiche. Und von Volksschullehrpersonal hört man vor allem Verzweifeltes: unterbesetzt und unterfinanziert allesamt, Bildung ist nicht mehr möglich, man befinde sich im Stadium der Notwehr gegen Kinder, die im Stadium der Barbarei verharren. Ich weiß, Schulen und Universitäten sind Arbeitsplätze. Wenn wir sie aber nur als solche begreifen, werden wir ihrer Besonderheit nicht gerecht.

Ich kann Universität nicht zuerst als Arbeitsplatz begreifen, ich muss sie als Ort der Freiheit sehen, der Autonomie. Ich weiß, auch das wird in den Papieren der Universitäten und der Beiräte beschworen, aber es bleibt doch eine Phrase, der die politische Realität widerspricht.

Die politische Realität scheint mir recht einfach zu begreifen. Wieso sollte die Universität als einzige gesellschaftliche Institution der Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse entgehen? Vor allem, wenn sie selbst nicht mit Vehemenz darauf beharrt, hier Widerstand zu leisten? Technologietransfer und Primat der Wirtschaft lauten die schlichten Stichworte, die ihre Realität bestimmen.

Als ich mit meinen Kollegen unsere kleine Utopie an einer Uni verwirklichte, war der Endsieg des Kapitalismus nicht ausgemacht. Mittlerweile ist er Realität, und die Universität ist kolonisiert. Oder sie ist dabei, kolonisiert zu werden. Und wie, wenn der Widerstand dagegen nur mehr als eine Art Kulturkonservativismus ausgelegt wird, mit dem man ihn diskreditieren kann? Nach dem Muster: Sie vertreten ja Humboldt’sche Bildungsideale. Sie sind unrettbar idealistisch und romantisch!

Ich glaube das nicht. Ich würde allerdings nicht mit humanistischer Bildung als Gegenmodell argumentieren, ich würde nur sagen, wenn eine Gesellschaft ihr intellektuelles, ihr geistiges Zentrum instrumentalisiert und dieses den Bedürfnissen der Wirtschaft unterwirft, hat sie sich und ihm, dem Zentrum, keinen guten Dienst erwiesen. Genau das scheint aber geschehen zu sein.

Was müssen Universitäten tun? Dass Hochschulen „technisch verwertbares Wissen vermitteln“, versteht sich von selbst. Jürgen Habermas nennt in seinem berühmten Aufsatz von 1967 „Universität in der Demokratie – Demokratisierung der Universität“ drei weitere Dinge, die Universitäten vermitteln müssen: Erstens extrafunktionale Fähigkeiten (etwa die Entscheidungssicherheit von Ärzten und Richtern). Zweitens die Überlieferung und Fortbildung der Kultur einer Gesellschaft, (also so etwas wie das Eingreifen in einer Historikerdebatte, bei uns könnte man an die Waldheim- Debatte denken oder an die Klärung europäischer Grundsätze wie Sozialstaat oder öffentlich-rechtliche Medien). „Drittens hat die Universität stets eine Aufgabe erfüllt, die nicht leicht zu definieren ist. Heute würden wir sagen: sie prägt das politische Bewusstsein ihrer Studenten. Auf deutschen Hochschulen war es lange genug ein unpolitisches Bewusstsein, eine eigentümliche Legierung aus bildungshumanistisch bestimmter Innerlichkeit und staatstreuer Autoritätsbereitschaft, die weniger unmittelbar politische Einstellungen hervorgebracht als vielmehr eine politisch folgenreiche Mentalität bestimmt hat.“

Woran müsste man, können Sie mit Recht fragen, diesen mentalitätsprägenden Beitrag messen? Meine Gradmesser wären die Autonomie und die Widerstandsfähigkeit. Diese zeigt sich an der Fähigkeit, den Diskurs einer Gesellschaft zu prägen. In den geläufigen Uni-Rankings spielt das keine Rolle. Unis müssten zum Beispiel fähig sein, der Öffentlichkeit zu zeigen, was diese Rankings bezwecken und warum sie nicht zutreffen.

Das wäre die Fähigkeit, das wirtschaftliche Primat zu benennen und zu unterlaufen. Was eben nicht heißt, Bummelstudenten aus Orchideenfächern zu generieren, sondern kritikfähige, gebildete Individuen auszubilden, die sich kraft ihrer intellektuellen Fähigkeiten nicht für alles instrumentalisieren lassen. Gerhard Casper, der ehemalige Präsident von Stanford, einer Uni, die beim Technologietransfer bekanntlich an der Spitze steht und sogar eine Google-Sonderuni beherbergt, sagt das in seinen Worten so: Es bestehe in den USA kein Zweifel daran, „dass die erfolgreichste Methode des Wissens- und Technologietransfers von Seiten der Universitäten in der Ausbildung von erstklassigen Studenten besteht: Männer und Frauen, die später einmal Führungsrollen in Industrie, Wirtschaft und öffentlichem Dienst einnehmen können.“ Ein weiterer Gradmesser wäre die Fähigkeit, bei dominanten gesellschaftlichen Phänomenen nicht mitzuschwimmen, sondern ihnen entschieden zu widersprechen. Der Neoliberalismus, in den 1940er Jahren von Friedrich August Hayeks Mont Pèlerin Society initiiert, war zuerst ein akademisches Projekt. Aber als die Zeit reif war, sprich als der Sozialstaat die Profite der Unternehmen bedrohte, wurde es mit riesigen Geldmitteln der amerikanischen Wirtschaftskammer und der Industrie durchgesetzt. Man gründete Think Tanks, beeinflusste Medien und nicht zuletzt sponserte man Lehrstühle und Publikationen. Es war die weltweit erfolgreichste Propagandaoffensive seit 1945. Allein 1972 gab man 900 Millionen für dieses Projekt aus, eine für damalige Verhältnisse riesige Summe.

Wenn ich in den Journalen des Qualitätssenders Ö1 den Think Tank Agenda Austria mit der Autorität eines unabhängigen Forschungsinstituts zitiert höre, denke ich an diese Offensive, die noch immer andauert. Agenda Austria wurde gegründet von einem Mitglied von Hayeks Mont Pèlerin Society, von Christoph Kraus, dem Generalsekretär des Verbands österreichischer Privatstiftungen. REWE, Raiffeisen Zentralbank, Erste Bank, Porr, Miba, Mondi, Mayr-Melnhof Karton, Umdasch und andere finanzieren das Budget des Instituts.

Woran liegt es, dass die universitäre Ökonomie hier nicht gegensteuert? Die unproportionale und falsche, weil scheinobjektiv daherkommende Präsentation dieser „Experten“ wird kaum konterkariert durch akademische Ökonomen. Natürlich deswegen nicht, weil das neoliberale Paradigma auch an den Universitäten regiert. Es regiert aber nicht unwidersprochen, bekannte Manifeste von Studenten und Professoren erhoben Einspruch gegen die Einseitigkeit dieser Lehre, und es regiert nicht überall. Dennoch fehlt offenbar die Fähigkeit, Widerspruch gewichtig anzumelden, die Proportionen wiederherzustellen.

Gewiss liegt das auch an den Medien, es liegt aber auch an den Universitäten. Das heißt nicht, dass jetzt bessere PR-Abteilungen aufgebaut werden müssten, das wäre das größte Missverständnis. Aber die an den Unis tätigen Intellektuellen müssen die Möglichkeiten bekommen und die Aufgabe begreifen, sich selbst gesellschaftlich sichtbar und wirksam zu machen. Sie müssten das, jenseits von gekaufter Meinung, zu einem zentralen Teil ihrer Arbeit machen. Das Ziel muss die Öffentlichkeit sein, nicht die Befriedigung von Darstellungsinteressen in Suböffentlichkeiten, seien sie spezialisiert- wissenschaftlich oder in der Form von PR-affinen Uni-Journalen.

Universitäten sind per definitionem Freiräume, Nicht-Unternehmen, Nicht-Betriebe. Das heißt nicht, dass sie ineffizient sein sollen. Aber es heißt, sie dürfen nicht den Kriterien von Effizienz und Verwertbarkeit unterworfen werden. Was zunehmend der Fall ist. Ihre Ziele orientieren sich an amerikanischen Eliteuniversitäten, die profitorientierte Betriebe sind. Die europäische Universität ist eine klassische Non-Profit-Einrichtung, inmitten einer der Profitlogik immer mehr unterworfenen Gesellschaft.

Der klassische Professor, die Professorin, privilegiert und abgesichert mit Unkündbarkeit und Freiheit, nicht zu lehren, sondern zu forschen, gilt als abgeschafft. Der neue Typus ist der tüchtige, befristet gebundene, noch besser nicht fix auf die Universität angewiesene Drittmittelbeschaffer, und im Mittelbau die vielen prekär beschäftigten Mitarbeiterinnen, die im perspektivlosen Limbo einer Nicht-Karriere hängen.

Auf-Zeit-Bestellungen stellen keineswegs immer einen Fortschritt dar, sie haben im Mittelbau ein akademisches Proletariat hervorgebracht, an der Spitze aber ein situationselastisches Personal, von dem wenig Rückgrat vorausgesetzt werden kann, man muss sich ja den nächsten Job sichern. Man wird steuerbar, gefügig, weniger aufsässig. Mehr Flexibilität hat also nicht mehr Leistung hervorgebracht, sondern – im Sinn gesellschaftlicher Wirkung – weniger.

Lassen Sie mich am Schluss ein konkretes Beispiel geben: die Digitalisierung. Eine technologische Epochenwende, salopp gesagt würde ich sie den technischen Ausdruck des Neoliberalismus nennen. Digitalisierung ist Pflicht, das versichern uns Politiker, Medienleute, Pädagogen, Unternehmer. Ihr entzieht man sich nur um den Preis, abgehängt zu werden, sich Standortnachteile einzuhandeln und so weiter. Digitalisierung bildet aber auch Mentalitäten aus, sie kolonisiert die Welt, und zwar weder im Sinn der Demokratie noch in dem der Aufklärung; obwohl das in ihren technischen Möglichkeiten durchaus angelegt wäre.

Die polit-ökonomische Realität ist stärker: Monopole und zentrale Überwachung verbünden sich zum Gegenteil dessen, was möglich wäre. Silicon Valley formt die Welt nach seinen Bedürfnissen, und Gegenwelten können sich beinahe nur in krimineller Form manifestieren. In Volksschule wird Code, also Programmieren, zur Pflicht, weil Programmierer- Nachschub benötigt wird. Mittelschulen müssen mit Hardware und Software ausgestattet werden; sie sind zugleich Märkte für Produkte wie Experimentierfelder der Philanthrokapitalisten.

Und auf der universitären Ebene? Ein dramatisches Beispiel scheint mir zu sein, dass in Deutschland in den letzten Jahrzehnten 16 Lehrstühle für Informatik und Gesellschaft abgewickelt wurden (in Wien heißt das Fach nun anders – „Gesellschaftliche Spannungsfelder der Informatik“ – nur in Linz heißt es noch so). Vor fünf Jahren eröffnete dafür in Berlin das Alexander-von-Humboldt- Institut für Internet und Gesellschaft. Es wird mit jährlich 4,5 Millionen Euro von Google finanziert, und eine angesehene sozialdemokratische Politikerin wie Gesine Schwan macht die Aufsichtsrätin.

Das ist das Gegenteil dessen, was ich für wünschenswert halte. Es ist das, was Habermas einst die „eilfertige Integration einer entpolitisierten Hochschule in die sich formierende Gesellschaft“ nannte. Ihr wäre, meinte er, entschieden entgegenzutreten. Die Universität sollte, meine ich, in einer Gesellschaft der archimedische Punkt sein, der zugleich außerhalb dieser Gesellschaft liegt und dazu imstande ist, sie aus den Angeln zu heben, und zugleich in ihrem Zentrum liegt, weil an diesem Ort nämlich reflektiert werden sollte, was in dieser Gesellschaft passiert, und in welche Richtung sie sich entwickelt.