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Die Reifeprüfung

Das vergangene Schuljahr endete mit kollektiver Überforderung. Wie stehen die Chancen, dass es besser wird? Karin Leitner über bildungspolitischen Katastrophenschutz.

Von Karin Leitner

Bildung ist nach wie vor „erblich“. In einem Land wie Österreich. Von „Chancengleichheit“ reden Politiker*innen. Theoretisch gibt es sie. Praktisch nicht. Kinder, deren Eltern „bildungsfern“ sind, solche, die aus finanziell schlecht ausgestatteten Haushalten kommen, solche mit Migrationshintergrund sind nach wie vor benachteiligt. Die Leistungsunterschiede werden laufend wissenschaftlich dokumentiert; etwa durch die PISA-Studie. Fast ein Viertel der 15-Jährigen ist leseschwach. Ein beunruhigendes Faktum.

Das Schicksal von Mädchen und Buben hängt nach wie vor von den Verhältnissen ab, denen sie entstammen. Kinder von Akademiker* innen haben am Ende der Pflichtschulzeit durchschnittlich 1,4 Jahre Lernvorsprung auf Kinder von Eltern mit Pflichtschulabschluss.

Nicht minder talentiert als jene von in mehrerlei Hinsicht privilegierter Herkunft sind diese Kinder. Deren Fähigkeiten werden aber oft nicht entdeckt, so auch nicht gefördert. Dazu sind sie stigmatisiert, oft allein schon des Namens der Stätte wegen, in denen viele von ihnen sind: in einer „Brennpunktschule“.

Als wäre das nicht schlimm genug, kommt etwas noch nie Dagewesenes. Eine Pandemie. Quasi von einem Tag auf den anderen wird in Österreich alles heruntergefahren. Kollektiver Ladenschluss. Und so werden auch Kindergärten und Schulen zugesperrt. Kinder, Mütter, Väter, Lehrer*innen sind gefordert – viele überfordert – ob der Situation. „Homeschooling“ ist angesagt. Was modern und kosmopolitisch klingt, ist schwer zu machen. Lehrpersonen sind gewohnt, vor den Schüler*innen zu referieren. In Vor-Ort-Didaktik wurden sie geschult. Schüler*innen sind gewohnt, in einem Klassenverband zu sein, geleitet von Pädagog* innen. Eltern sind gewohnt, dass ihre Kinder untertags in der Schule sind, dass sie höchstens bei Hausübungen assistieren. Mit all dem ist vorerst Schluss.

Da sind nun Angst vor und Sorge wegen des Virus, dessen Auswirkungen und Folgen. Und unter solchen Bedingungen soll gelehrt und gelernt werden. Nicht nur die Kinder sind zu Hause, auch viele Eltern – weil sie im Homeoffice werken. Die Hauptlast tragen die Frauen. Dem Tag eine Struktur sollen sie geben, die Kinder dazu anhalten, das, was Lehrer*innen auf virtuellem Wege vorgeben, zu erledigen. Selbst für jene, die dazu imstande sind, ist das belastend. Erst recht für solche, die das nicht können – und die auch noch räumlich an den Grenzen sind. In einer kleinen Wohnung in der Großstadt, kein Balkon, keine Terrasse, kein Garten. Keine Rückzugsmöglichkeit, keine Ruhe, keine Entspannung im Freien. Dafür Spannungen innerhalb der Familie – weil um den Job gebangt, Alkohol getrunken, gestritten wird. In Gewalt resultiert da und dort die gewaltige Herausforderung.

 Die Schere wird größer werden

Auch viele Pädagog*innen kommen mit dem Zustand nicht zurande. Eine AHS-Lehrerin, die Geschichte und Politische Bildung sowie Psychologie und Philosophie unterrichtet, keine „Problemschüler*innen“ in den Klassen hat, schildert ihre Erlebnisse: Arbeitsblätter, Dokumentationen, Internet-Links habe sie Unter- und Oberstufler*innen übermittelt. Manche hätten „die Aufträge gewissenhaft und termingerecht erledigt, andere immer zu spät, erst nach unzähligen Aufforderungen per Mail“. Einige seien „buchstäblich wochenlang untergetaucht“. Ein Mädchen habe ihr „Liebe Grüße aus den Corona-Ferien“ geschickt. Wohl in dem Glauben, dass das eine Lern-Auszeit sei. Der Pädagogin Fazit: „Bei 300 Schüler*innen erstickte ich schließlich an Mails und Arbeitsblättern. Die ganze Sache war frustrierend.“

Manch andere Lehrer*innen hatten weniger zu bewerkstelligen als vor dem Lockdown. Sie kamen virtuell nicht zu den Schüler*innen, weil diese keinen Online-Zugang haben. Das Institut für Höhere Studien hat Pädagog*innen das Homeschooling bewerten lassen. Das Resultat: Zwölf Prozent der Schüler*innen sind schwer oder nicht zu erreichen gewesen. Gar 36 Prozent von denen, die schon vor der Krise als benachteiligt galten – wegen Sprachproblemen und niedrigem „Sozialstatus“ –, waren kaum bzw. nicht zu kontaktieren. Auch dort, wo die Interaktion funktioniert hat, ist es im Laufe der Zeit mühsamer geworden. Eine Online-Befragung hat ergeben, dass sich jede*r siebte Schüler* in mit dem „Distance Learning“ zusehends schwerer getan hat. Studierende – die Unis waren ja auch dichtgemacht – haben das ebenfalls kundgetan. Viele Pädagog*innen gehen davon aus, dass sich diese Lernform negativ auf die Leistungen der Kinder und Jugendlichen auswirkt, vor allem auf die der „benachteiligten“. 76 Prozent der befragten Lehrer*innen prognostizieren, dass diese noch weiter zurückfallen werden. Wie viele Firmen versuchten sich manche Pädagog*innen mit Videokonferenzen zu helfen. Es war eine Krücke, kein probater Ersatz für Unterricht in der herkömmlichen Art. Ein HTL-Lehrer sagt: „Wenn es keine technischen Probleme gab, redeten immer wieder manche gleichzeitig. Und acht Stunden in ein Kastl statt in die Gesichter der Schüler*innen zu schauen, ist auch nicht das Wahre.“

Ein ähnliches Bild zeichnet Stephan Huber, Wissenschaftler der Pädagogischen Hochschule Zug und Gastprofessor der JKU. Mit seinen Kolleg*innen hat er eine – mittlerweile vielzitierte – Studie über die Herausforderungen von Schule und Bildung während des Lockdowns gemacht. „Insgesamt liegt die Vermutung nahe, dass es einen Schereneffekt gibt, bei Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie innerhalb und zwischen Schulen. Wir gehen davon aus, dass sich in Krisensituationen verschiedene Schulqualitäten deutlicher auswirken, vorhandene Unterschiede sich noch vergrößern“, sagt Huber. Besonders sorgen müsse man sich um jene Kinder und Jugendlichen, die Probleme damit haben, den Tag zu strukturieren, die Aufgaben zu bewältigen und sich zu motivieren. „Ihre tägliche Lernzeit liegt zudem deutlich unter dem Durchschnitt. Hier werden Anstrengungen der Kompensation dieser Defizite sehr bedeutsam werden“, erklärt der Wissenschaftler.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, konstatiert mit Blick auf die kommenden Monate: „Wir stehen vor einer Katastrophe für eine ganze Generation, durch die unermessliches menschliches Potenzial verschwendet, jahrzehntelanger Fortschritt untergraben und tief verwurzelte Ungleichheiten verschärft werden könnten.“ Der Alarmismus ist angebracht. Die Krise ist längst nicht vorbei. Die Infektionszahlen steigen wieder.

Schulen sind mehr als Gebäude

Wie soll in den Schulen damit umgegangen werden? „Alte Normalität“, „neue Normalität“, die Türen neuerlich allerorts zu? In Oberösterreich wurden im Juli wegen Clustern in „Freikirchen“ weiträumig Kindergärten und Schulen geschlossen, Bildung wurde erneut in das Private verschoben. Das kann und darf es auf Dauer nicht sein. Aus bildungspolitischen und ökonomischen Gründen. Im wirtschaftsliberalen Thinktank Agenda Austria ist errechnet worden, dass von Mitte März bis Mitte Mai 121 Millionen produktive Arbeitsstunden verloren gegangen sind, weil Kindergärten und Schulen nicht off en waren; das seien fast zwölf Prozent derer, die normalerweise in diesem Zeitraum anfallen. Ein Verlust in der heimischen Wertschöpfung von 7,2 Milliarden Euro – oder einem BIP von 1,8 Prozent. Der Agenda Austria-Ökonom Hanno Lorenz warnt auch vor negativen Auswirkungen auf Kinder aus „bildungsfernem“ Milieu: „Das Virus hat den Faktor Glück in Österreichs Bildungslotterie weiter erhöht.“ Geschätzt wird, dass der Verlust eines Schuljahres im Berufsleben zu finanziellen Einbußen von mehr als 1.500 Euro brutto jährlich führt.

Manche meinen angesichts dieser Befunde: Was soll das Trara? Wir leben ja nicht mehr im Mittelalter. Wenn alle Lehrer*innen entsprechend fortgebildet, alle Schüler*innen mit WLAN und technischem Gerät ausgestattet würden, wäre Lernerei abseits der Schulgebäude keine Hexerei. Arbeit im Homeoffice sei eine der Zukunft, „Distance Learning“ eine gute Vorbereitung darauf. An diese Schlaumeier: Beengte Wohnverhältnisse bleiben beengt, Eltern sind keine Lehrkräfte. Und viele der Mütter und Väter, die während des Shutdowns zu Hause waren, sind es nicht mehr.

Abgesehen davon sind Schulen mehr als Gebäude, in denen doziert und Wissen vermittelt wird. Sie sind auch soziale Räume. Es geht um Gemeinschaft, Austausch zwischen Gleichaltrigen, Geplauder, Lachen in den Pausen. Es geht um Arbeit in der Gruppe im Unterricht, um unmittelbares Feedback. Nicht nur Schüler*innen brauchen das; solches ist auch für die Pädagog*innen wichtig. Die guten sehen auch sofort, ob die Schüler* innen der Materie folgen können. Die AHS-Lehrerin für Geschichte und Psychologie sagt: „Homeschooling ist für meine Fächer besonders ungeeignet. All das, was mir besonders am Herzen liegt und auf das ich großen Wert lege – spannende Erzählungen, Fragen und kritisches Hinterfragen, Diskussionen, Selbstreflexion –, ist mit Arbeitsblättern und Arbeitsaufträgen ohne Interaktion nicht möglich. Lehrersein macht nicht aus, stundenlang am PC zu sitzen.“ In ihrem Befund bestärkt fühlt sie sich durch Rückmeldungen von Schüler*innen, die sie vor den Sommerferien – da war Schichtbetrieb an den Schulen – bekommen hat: „Wir haben uns schon so gefreut, mit Ihnen über Themen zu reden. Allein sind wir mit den geschichtlichen Zusammenhängen nicht klargekommen.“

Klar ist, dass an den Schulen nicht Usus sein kann, was er vor der Covid- 19-Pandemie war. Wie überall ist auch dort Umsicht, Vorsicht und Rücksicht geboten. Handhygiene und Abstand zu halten ist an vielen dieser Institutionen aber nicht leicht. An Waschbecken mangelt es dort und da, Gänge sind schmal, Einzeltische in den Unterrichtsräumen gibt es nicht. In Konferenzzimmern vieler Schulen sitzen nicht ein paar, sondern Dutzende Lehrer*innen. Und das wie in einer Legebatterie. Luft- und Lüftungsprobleme gibt es ebenso. Wegen der Aerosole ein Risiko.

Warum werden nicht Alternativen zu den klassischen Klassen angedacht? Schüler*innen und Lehrpersonal könnten in – auch coronabedingt – leerstehende Räumlichkeiten ausweichen, etwa in Veranstaltungssäle. Bildungsminister Heinz Faßmann rät dazu, weitgehend im Freien zu unterrichten. Abgesehen davon, dass das vor allem in Großstädten kaum machbar ist, weil die Plätze dafür fehlen –, ob der Temperaturen im Winter ist das nicht zu realisieren.

Und so ist alles zu tun, damit einander Schüler*innen und Lehrer*innen in den Räumlichkeiten nicht anstecken. Auf die „Ampel“ setzt Faßmann, um zu vermeiden, dass wegen vieler Infizierter großflächig Schulen geschlossen werden müssen. Steht diese auf „Grün“, soll es grosso modo Normalbetrieb geben. Bei „Gelb“ sind außerhalb der Klassen Masken zu tragen, bei „Orange“ gibt es Heimunterricht für AHS-Oberstufenschüler*innen und jene in Berufsbildenden mittleren und höheren Schulen, bei „Rot“ müssen alle in das Homeoffice.

Besser laufen sollte der Fernunterricht als zuletzt. Aus den Erfahrungen gelte es zu lernen. Nicht nur für den Umgang mit einem teuflischen Virus. Auch für das Bildungssystem in der Zeit danach.

Bildung beginnt viel früher

An einigem hat es bereits vor der Corona-Krise gehapert. Immer noch werten viele den Kindergarten als Aufbewahrungsstation. „Er sollte als Bildungseinrichtung betrachtet werden“, befindet Johann Bacher, Soziologieprofessor an der Linzer Johannes Kepler Universität. In der Tat. Es geht auch nicht an, dass Kindergärten mittags schließen – und sechs Wochen im Sommer geschlossen sind. Sie sind Orte, in denen der Grundstein für Bildung gelegt wird. Sie sind das Fundament für die weitere Laufbahn. Gerade dort müssen ökonomische Hindernisse weg. Und so sollte auch das zweite Kindergartenjahr gratis sein. Immer wieder zeigt sich: Mädchen und Buben, die in einem Kindergarten waren, tun sich in der Volksschule leichter als solche, die bis dahin nur zu Hause gewesen sind.

Expert*innen wie Bacher plädieren weiters dafür, finanzielle Mittel sozialindiziert zu vergeben. Das heißt: Schulen, in denen viele sozial benachteiligte Kinder sind, sollten zusätzliche Ressourcen bekommen, „um ungünstige Rahmenbedingungen auszugleichen“, wie Bacher sagt. Derzeit wird Geld im Wesentlichen nach der Schulform, der Klassengröße und nach regionalen Gesichtspunkten vergeben. Die sozialen Gegebenheiten werden nicht berücksichtigt. Die Regierungsparteien haben ein Pilotprojekt dazu vorgesehen – für 100 Schulen „mit besonderen Herausforderungen“.

Mehr Lehrer*innen als derzeit sind generell vonnöten, ebenso – das begehrt die Lehrergewerkschaft seit Jahren – mehr Leute in der Verwaltung, mehr Psycholog*innen, Sozialpädagog* innen, Logopäd*innen. ÖVP und Grüne haben im Regierungsprogramm festgeschrieben, „bedarfsgerecht aufzustocken“. Wann das realisiert sein soll, ist offen, detto die Finanzierung.

Auch mehr ganztägige Schulformen – mit abwechselnd Unterricht, Lerneinheiten und Freizeit oder Nachmittagsbetreuung – sind gefragt, um Kinder zu fördern. Von der SPÖ parlamentarisch dazu befragt, hat Minister Faßmann wissen lassen, dass im vergangenen Schuljahr nur 26.000 bzw. vier Prozent der Pflichtschüler*innen den verschränkten Modus beansprucht haben. Viel zu wenige. Gäbe es mehr Unterstützung auf diese Weise, wären weniger Kinder und Jugendliche auf Nachhilfe angewiesen – die teuer ist. Laut Arbeiterkammer werden hierzulande jährlich insgesamt 86 Millionen dafür ausgegeben.

Hausübung für die Politik

Die Crux seit jeher: Bildungspolitik ist hochideologisch. Und so ging unter rot-schwarzen Regent*innen dahingehend wenig weiter. Und das, worauf sich die beiden Parteien verständigten, waren Minimalkompromisse. Vieles war nicht Fisch, nicht Fleisch. Nun koalieren zwei Parteien, die – was Kindergarten, Schulen und Universitäten anlangt – ebenfalls nicht eines Sinnes waren. Auf einheitliche Qualitätsmindeststandards für Kindergärten haben sich Türkise und Grüne verständigt. In Sachen Schule sind die Koalitionäre bei den – unter Türkis-Blau verankerten – umstrittenen Deutschförderklassen geblieben. Aber es soll künftig mehr über Organisatorisches an den Schulen mitgeredet werden können, etwa, wie groß die Gruppen sind. Noch etwas, das einst von ÖVP und FPÖ vereinbart worden ist, ist auch auf dem Programm von ÖVP und Grünen: eine Bildungspflicht. Erst wenn Jugendliche in Mathematik, Deutsch und Englisch Grundkompetenzen haben, sollen sie die Schullaufbahn beenden können.

Ein Arbeitsabkommen, das Parteien – welcher Couleur auch immer – geschlossen haben, ist keine Bibel. Es darf auch nicht wie eine qualifiziert werden. Manches von dem, was bei der Unterfertigung als sinnvoll erscheint, kann es schon bald darauf nicht mehr sein. Weil es Notwendigkeiten gibt, die nicht vorhersehbar waren. Wie eine Pandemie, die die gesamte Welt in einen Ausnahmezustand bringt. Gesundheits-, sozial-, arbeitsmarkt und wirtschaftspolitisch musste rasch gehandelt werden. Vieles, was auf der Agenda war, war plötzlich Makulatur. Bildungspolitisch sind Ideologien nun hintanzustellen. Zu tun ist alles – und die Expertise dazu gibt es –, damit nicht passiert, was UN-Generalsekretär António Guterres skizziert. Damit eine Katastrophe für eine ganze Generation verhindert wird, „durch die unermessliches menschliches Potenzial verschwendet, jahrzehntelanger Fortschritt untergraben und tief verwurzelte Ungleichheiten verschärft werden könnten“.