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Ein dickes Ding

Astronomen glauben, das meiste, das sich da oben tut, haben wir noch gar nicht gesehen. Mit dem Riesenteleskop ELT werden sie jetzt aber weiter ins All blicken können als je zuvor. Mathematiker der JKU arbeiten daran mit, dass es detailgetreue Bilder liefert.

Von Benjamin Breitegger

Was ist dunkle Materie, was dunkle Energie? Gibt es erdenähnliche, bewohnbare Planeten? Und was gibt es Neues, Pardon, Altes in nahen Galaxien? Es sind Fragen, die sich Astronominnen und Astronomen stellen. Sie können genau beziffern, wie lange das Universum schon existiert: 13,8 Milliarden Jahre. Aber wie genau es aussieht, darüber ist weniger bekannt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen, dass erst sechs Prozent unseres Kosmos erforscht sind. Andersrum: Das meiste, nämlich 94 Prozent, ist uns unbekannt. Es bleibt wortwörtlich im Dunkeln. Wir wissen schlicht nicht, was uns umgibt.

Wir wissen es noch nicht. Viele offene Fragen beantworten soll – und viele weitere aufwerfen wird – das Extremely Large Telescope (ELT). Der Name klingt wenig kreativ, aber das Adjektiv ist nicht übertrieben und das ELT tatsächlich ein Vorhaben der Extreme: Mit einem Primärspiegel- Durchmesser von 39 Metern wird es nicht nur das weltweit größte, sondern auch das leistungsstärkste optische Teleskop sein; bisherige von der Europäischen Südsternwarte erbaute Teleskope messen acht Meter. Der Plan: In fünf Jahren soll das ELT in Betrieb gehen. Erdbebensicher erbaut auf dem Cerro Armazones in der chilenischen Atacama-Wüste. Kosten: rund 1,2 Milliarden Euro.

Die Europäer arbeiten also an Großem. Etwas, das die bisherige Dominanz der Amerikaner in der Astronomie in Frage stellt und die New York Times bange fragen lässt: „Will the United States Lose the Universe?“ – Verlieren die Vereinigten Staaten das Universum? Die Antwort ist: Sieht so aus, auch wenn die Daten natürlich allen zur Verfügung stehen werden. „Rund alle 25 Jahre gab es im vergangenen Jahrhundert große Sprünge in der Astronomie“, sagt Kieran Leschinski vom Institut für Astrophysik an der Universität Wien. „Immer wenn die brennheißen Forschungsthemen langsam ausgeschöpft werden, entwickelt man etwas Neues.“

„Sterne sind wie Menschen“

Das europäische Teleskop ist so etwas Neues, der nächste große Sprung. Astronomen werden damit weiter ins All schauen können als je zuvor und den großen Fragen der Astrophysik nachgehen. Leschinski sagt: „Wir haben ein Henne-Ei-Problem: Ohne Staub entstehen keine Sterne, aber ohne explodierende Sterne entsteht kein Staub.“ Was also war zuerst? Sterne oder Staub? Um das beantworten zu können, muss man die Galaxien betrachten, die gleich nach dem Urknall entstanden sind. Das neue Teleskop wird Astronomen genau das erstmals ermöglichen. Sie werden die Ausdehnung des Universums messen können und möglicherweise weitere Exoplaneten erforschen, also Planeten außerhalb unseres Sonnensystems. Für die Entdeckung von „Dimidium“ wurden erst 2019 zwei Physiker mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Kieran Leschinski, der sich mit stellarer Astrophysik beschäftigt, sagt: „Sterne sind wie Menschen, sie sind alle ein bisschen anders.“ Es gibt kleine und große und riesige, und sie alle haben unterschiedliche Massen und sind unterschiedlich alt. Sie sind außerdem unterschiedlich weit von der Erde entfernt. Im Umkreis von 1000 bis 2000 Lichtjahren konnten Astronomen die Verteilung der Sternenmassen bisher sehr gut erforschen. Die Bedingungen in diesem Bereich seien aber ähnlich wie bei der Sonne, so Leschinski. Deshalb will man darüber hinaus blicken. Darüber hinaus ist noch: das große Unbekannte. Denn die verfügbaren Instrumente reichen nicht, um den genauen Anteil der kleinsten Sterne festzustellen. Das ELT aber wird Astronomen ermöglichen, die kleinsten Sterne bis zu 50.000 Lichtjahre weit und damit direkt im galaktischen Zentrum zu beobachten. Dort herrschen ganz andere Bedingungen. Eine Vielzahl Sternen-Entstehungsgebiete gibt es dort zu sehen, Nebel und auch das supermassive Schwarze Loch. Phänomene, zu denen es noch viele offene Fragen gibt. Man kann auch sagen: Für Forscher wird das Schwarze Loch in Zukunft ein bisschen graustufiger.

Oder die Sonne. Sie sei der einzige Stern, bei dem Wissenschaftler bisher Details beobachten konnten, sagt Arnold Hanslmeier, Professor für Astrophysik an der Universität Graz. Wer die Sonne verstehe, verstehe auch andere Sterne. Und umgekehrt gelte eben auch: „Wenn wir entfernte Sterne beobachten, können wir über die Sonne lernen.“ Klar ist: Ohne die Sonne gebe es kein Leben auf der Erde, kein Licht und keine Wärme. Forscher wollen aber genau wissen, wie die Sonne die Erde und ihre Umgebung beeinflusst. Sie nennen es: das Weltraumwetter. Wie es sich entwickelt, darüber weiß man vergleichsweise wenig. Mehr als gewisse Trends ablesen kann man aktuell nicht. „Die Vorhersage des Weltraumwetters ist da, wo die Meteorologie auf der Erde vor 40 oder 50 Jahren war“, sagt Hanslmeier. Es gibt also noch Luft nach oben. Das ELT wird neue Erkenntnisse bringen. Worauf Hanslmeier gespannt sei, ganz unwissenschaftlich? „Auf die schönen, detailgetreuen Bilder“ des Riesenteleskops.

1.000-mal schnellere Algorithmen

Verantwortlich für das Vorhaben zeigt sich die Europäische Südsternwarte (ESO). Wie das CERN in der Schweiz ist die ESO mit Sitz in Garching bei München ein internationales Institut, das quasi-diplomatischen Status besitzt. In Chile gehört ihr ein riesiges Grundstück in der Atacama-Wüste. Dort gibt es Forschungsstationen und Teleskope, von denen man bereits heute „erstklassige Daten“ erhalte, schwärmt Leschinski. Lichtverschmutzung gibt es in der Wüste nicht. Die Luft ist besonders trocken und die Lage auf der Südhalbkugel bietet den perfekten Blick auf das galaktische Zentrum; von Europa aus sind die Milchstraße oder die Magellanschen Wolken nicht so gut zu sehen.

Die ESO existiert bereits seit 1962, Österreich ist seit 2008 Mitglied im europäischen Konsortium. Am Riesenprojekt ELT sind Astronomen und Ingenieure aus Wien, Graz und Innsbruck beteiligt – und auch Mathematiker aus Linz. Sie arbeiten an der Kamera mit, die im Teleskop installiert wird. Je nach zu messendem Wellenlängenbereich kommen verschiedene Systeme zum Einsatz. „Sie sind wie die wechselbaren Objektive an einer Spiegelreflexkamera“, erklärt Roland Wagner vom Institut für Industriemathematik an der Johannes Kepler Universität Linz. Das perfekte Bild sei damit nicht möglich, das gebe es nicht. „Wir wollen aber das bestmögliche.“

Um dieses bestmögliche Bild zu erzeugen, müssen Hürden überwunden werden. Denn wer durch die Erdatmosphäre schaut, sieht die Luft flimmern. Betrachtet man einen Stern durch ein Teleskop, blinkt dieser leicht – ein Effekt, der durch Turbulenzen in unserer Erdatmosphäre zustande kommt. Diese sogenannte atmosphärische Störung macht Fotos unscharf, man muss sie daher bestmöglich herausfiltern. Möglich ist das, indem man die Verzerrung einfallender Lichtwellen misst und die Teleskopspiegel dementsprechend verformt. Das muss automatisch passieren – und innerhalb von Millisekunden. Eine Herausforderung, die einer komplexen Rechnung bedarf. „Gängige Algorithmen wären dafür zu langsam“, erklärt Wagner. Die Mathematiker der Kepler-Universität und des Johann Radon Institute in Linz entwickelten daher neue Algorithmen – und schafften es, die bisherigen um den Faktor 100 bis 1000 zu beschleunigen. Schnell genug, um am ELT eingesetzt zu werden. In Zukunft werden Motoren die Form der Teleskopspiegel automatisch tausendmal pro Sekunde ändern können.

Neben diesen „adaptiven Optiken“ gibt es noch andere Besonderheiten: Weil die Kamera bei einer Langzeitbelichtung die Erdrotation ausgleicht, bewegt sie sich während der Aufnahme. „Man muss deshalb genau überlegen, wie Kabel in der Konstruktion verlegt werden“, sagt Wagner. Die so erzeugten Bilder werden am Ende noch weiter optimiert. Dafür kommt Software zum Einsatz, die etwa Verzerrungen herausrechnet, eine Art Photoshop für Weltraumfotos. Das erwartete Ergebnis ist vielversprechend: Die Bilder sollen 25-mal schärfer sein als jene der derzeit größten Teleskope.

Was passiert mit Weltraumschrott?

Die Grundlagen für die heutige Weltraumforschung lieferte der Namensgeber der Kepler-Universität Linz, der Mathematiker und Astronom Johannes Kepler. Im 17. Jahrhundert bestätigte er die Beobachtungen Galileo Galileis. Die Keplerschen Gesetze – etwa dass sich Planeten auf elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen – haben nach wie vor Gültigkeit. Heute, 400 Jahre nachdem Galileo Galilei mit Hilfe seines Teleskops unser Sonnensystem studierte, könnten Astronomen mit Hilfe des ELT weitere Sonnensysteme entdecken. Es sei einfach, sagt Kieran Leschinski: „Je größer das Teleskop, desto besser die Auflösung.“ Früher wurden die Teleskope meist um den Faktor 2 größer. „Nun springen wir von 8 auf 39 Meter.“ Die Dimensionen sind einmalig.

Nur eines könnte zum Problem werden: Private Firmen planen im nächsten Jahrzehnt, Tausende Satelliten ins All zu schießen. Ihre Flugbahnen hinterlassen helle Streifen bei Langzeitbelichtungen. Der Industriemathematiker Roland Wagner ist aber optimistisch, dass das die Forschung nicht sonderlich behindern wird. Per Software könne man Bilder nachträglich bearbeiten. Kieran Leschinski denkt auch, dass die Methoden, Bilder zu säubern, ausgereift genug seien. Er macht sich eher Sorgen um Nachhaltigkeit. Die Europäische Weltraumorganisation schätzt, dass schon heute rund 40 Prozent aller Satelliten funktionsuntauglich sind. Es handelt sich schlicht um Weltraumschrott. Der schwebt umher, Satelliten kollidieren, erzeugen mehr Müll. „Wenn irgendwann zu viel Schrott mit hoher Geschwindigkeit herumfliegt, könnte das Weltall nicht mehr zugänglich sein“, fürchtet Leschinski. Das All sei aber extrem nützlich. „Unsere Gesellschaft würde nicht so funktionieren, wie sie funktioniert, gäbe es keine Satelliten.“ Was also heute das Plastik für die Weltmeere ist, könnten in Zukunft kaputte Satelliten für den Kosmos sein. Die Europäische Weltraumorganisation plant deshalb, die Beseitigung von Weltraummüll zu erproben; die Mission ClearSpace-1 soll 2025 starten.

„Ich freue mich irrsinnig auf die Zukunft“, sagt Leschinski. Die Geschichte des Extrem Großen Teleskops, sie ist eine Geschichte des abenteuerlichen Suchens nach Antworten auf die großen offenen Fragen, die das Universum bereithält. Und dann? Was kann danach schon kommen? Nun, vielleicht das Überwältigend Große Teleskop. Den Namen gibt es wirklich, wer will Naturwissenschaftlern ihren Humor absprechen? Die ESO hatte ursprünglich einen Spiegel mit hundert statt 39 Metern Durchmesser geplant, musste die Idee aber verwerfen: zu teuer, zu kompliziert. Noch. Denn wer kann schon vorhersagen, was in einem weiteren Vierteljahrhundert geschieht?