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Ein phänomenales Material

Vor über 30 Jahren verknüpften drei Physiker Prinzipien der Quantenmechanik mit dem mathematischen Konzept der Topologie. Zu den Spätfolgen zählen ein Nobelpreis, die Wiederbelebung fantasievoller Vergleiche von Donuts mit Henkeltassen und die Grundlage für eine komplett neue Materialklasse: topologische Isolatoren. Deren verblüffende Eigenschaften rücken nun neuartige Elektronikbauteile, energiearme Handys und sogar den Quantencomputer näher in den Bereich des Machbaren.

Von USCHI SORZ

Es wäre ja nicht zum ersten Mal, dass die Wissenschaft gängige Annahmen auf den Kopf stellt. Auch wenn sie zu einem großen Teil aus langwieriger detektivischer Kleinarbeit besteht, sind Umwälzungen doch eines ihrer hervorstechendsten Merkmale. Und nicht zuletzt die sprichwörtliche Karotte vor der Nase vieler Forscher, die überall auf der Welt nach neuen Zugängen zu ungelösten Fragen suchen. In der Festkörperphysik gibt es gerade eine besonders saftige Karotte: „Materialien mit topologischen Eigenschaften könnten die moderne Elektronik revolutionieren“, ist die Experimentalphysikerin Alberta Bonanni überzeugt. Sie ist Professorin für Festkörper- und Halbleiterphysik an der Johannes Kepler Universität in Linz.

Die Rede ist von kristallinen Festkörpern, durch deren äußeren Rand Strom fließt, obwohl sie diesen in ihrem Inneren genauso effektiv blockieren wie etwa Gummi oder Holz. In der Fachsprache heißen sie darum topologische Isolatoren. Lediglich ihre ultradünne, aus nur wenigen Atomlagen bestehende Oberfläche ist ein Leiter, und zwar ein außergewöhnlich guter. Das hat wiederum mit grundlegenden Symmetrien im Inneren des Materials zu tun. Sie zwingen die Elektronen in der Oberfläche, sich wie auf Schienen durch diese hindurchzubewegen.

Das Verhalten der Materialexoten sprengt vertraute Kategorisierungen. Man kennt sie auch noch nicht lange. 2005 und 2006 haben amerikanische Theoretiker Konzepte dafür geliefert, ein Jahr später gelang dem Experimentalphysiker Laurens Molenkamp von der Universität Würzburg mit Quecksilbertellurid im Labor die erste Umsetzung. Seitdem wird international fieberhaft an topologischen Isolatoren geforscht. „Einerseits geht es um neue, verbesserte Materialien, andererseits aber auch um Möglichkeiten für Elektronikbauteile in immer kleineren Dimensionen“, verdeutlicht Bonanni. Man arbeite ja im Nanometerbereich, etwa mit Drähten, die 10.000-mal dünner seien als ein Haar.

„In der Informationstechnologie ist es ein Gebot der Stunde, die Geräte immer kleiner, schneller und am besten auch umweltfreundlicher zu machen“, unterstreicht die Expertin für Kristallstrukturen. „Das wird aber dadurch erschwert, dass sich die integrierten elektronischen Schaltkreise im Betrieb stark aufheizen.“ Die heutigen auf Halbleiter basierenden Computerchips produzieren auf der Fläche eines Daumennagels so viel Wärme wie eine 100-Watt-Glühbirne. Und die nötige Kühlung schraubt den Energieverbrauch ordentlich hoch. Topologische Materialien hingegen erwärmen sich kaum.

Donuts und Tassen

Natürlich ist das Ganze nicht vom Himmel gefallen. In den 1970er- und 1980er-Jahren fanden die Physiker David Thouless, Duncan Haldane und Michael Kosterlitz heraus, dass man mit dem mathematischen Konzept der Topologie auch elektronische Eigenschaften bestimmter physikalischer Systeme erklären kann. Weil dieser Teilbereich der Mathematik höchst abstrakt ist, wurde er immer schon gern mit Donuts, Henkeltassen und Ähnlichem illustriert. Speziell nachdem die drei 2016 den Physik-Nobelpreis für ihre damaligen Entdeckungen zu topologischen Materiezuständen bekommen hatten, kramte man die bildhaften Vergleiche wieder hervor. Demnach ist der Donut dasselbe wie eine Tasse. Jedenfalls topologisch. Während er überhaupt keine Beziehung zu beispielsweise einer Brezel hat. Die Topologie untersucht nämlich Eigenschaften, die sich beim Verformen eines geometrischen Körpers nicht verändern. Löcher etwa und deren Anzahl. Zerstörende Eingriffe – wie neue hineinzubohren oder vorhandene zu schließen – gelten nicht. So haben ein Donut und eine Tasse genau ein Loch, bei der Tasse ist es im Griff. Gedanklich könnte man den Donut mit etwas Fantasie um das Loch herum zur Tasse umformen oder umgekehrt. Die Brezel scheidet nicht geschmacklich aus, sondern weil sie mehr Löcher hat. Zwischen dem Gemeinsamen und dem Ungleichen gibt es keine Verbindung.

Bei den Nobelpreisträgern ging es aber nicht um äußere Formen, sondern um Quanteneffekte und Verhaltensmuster von Elektronen in Festkörpern. Indem sie Prinzipien der Quantenmechanik mit den Mitteln der Topologie beschrieben, schufen sie auch die Grundlage für die topologischen Isolatoren.

Geschützte Quantenzustände

Deren Zwitterdasein als Isolator und Leiter sei übrigens längst nicht alles, sagt Bonanni. „Dieselben Faktoren, die den Stromtransfer in der Oberfläche erzwingen, bewirken auch, dass äußere Einflüsse wie die Temperatur oder Verunreinigungen diesem nichts anhaben können.“ Und damit auch nicht der Information, die hier mittels Elektronen übertragen wird, oder der einmal festgelegten Richtung des Eigendrehimpulses der Teilchen, des Spins. Auch den nützt man in der Computertechnik.

Die besondere Robustheit nennt man topologischen Schutz. Er verhindert zum Beispiel Energieverluste beim Stromtransport, schürt aber auch die Hoffnung, den Verheißungen der Quantentechnologie endlich näherzukommen: Magnetsensoren zur Gedankensteuerung von Computern etwa, abhörsicherer Datenübertragung, Quantenpräzision in der Navigationstechnik. Aus den Kinderschuhen kommt der Quantencomputer nur langsam, weil es unglaublich schwierig ist, große Register von Quantenbits zu programmieren und auszulesen. Auch müsste es gelingen, den bizarren Zustand der Verschränkung, in dem Quantenbits trotz großer räumlicher Entfernung wie durch Zauberei miteinander wechselwirken, bleibend aufrechtzuerhalten. „Diese Systeme sind hochempfindlich und zerfallen bei der kleinsten Störung“, erklärt Bonanni. Die erstaunliche Stabilität der Oberflächenzustände topologischer Materialien könnte hier ein Ausweg sein – wenn es gelingt, Quanteninformation darin zu speichern.

Zu den spannendsten Entwicklungen der letzten Jahre zählen für Bonanni Versuche, Quantenbits mithilfe der so genannten Majorana-Fermionen topologisch zu stabilisieren. Diesen Elementarteilchen, die zugleich Antiteilchen sind, jagt man schon lange hinterher. Der unter mysteriösen Umständen verschwundene italienische Physiker Ettore Majorana hat sie 1937 beschrieben. Erst vor Kurzem gelangen amerikanischen Forschern erste Nachweise für ihre Existenz.

Faszinierende Grenzgebiete

Auch Bonanni forscht auf dem Gebiet der topologischen Materialeigenschaften. Wie der Pionier Molenkamp ist sie im Vorstand des im Vorjahr gegründeten International Centre for Interfacing Magnetism and Superconductivity with Topological Matter mit Sitz in Warschau. Aktuell untersucht sie in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt Phänomene an den Grenzflächen zwischen topologischen Isolatoren und Supraleitern. „Gerade auf Nanoebene passiert das Entscheidende an den Grenzflächen“, erklärt sie. „Hier beobachten wir faszinierende Dinge, wenn wir Materialien mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften in Kontakt bringen.“ In dem jungen Forschungsfeld seien noch viele Fragen offen. „Wir möchten zum Beispiel Materialien verstehen, die gleichzeitig magnetisch und supraleitend sind. Obwohl sich das fundamental widerspricht, gibt es die.“ Ihre Studierenden, Doktoranden und Postdocs an der JKU hält die Experimentalphysikerin stets auf dem neuesten Stand. „Heutzutage geschieht unglaublich viel in internationalen Kooperationen und meine Leute nehmen natürlich auch an Messungen in Einrichtungen wie dem CERN teil und verfolgen die Entwicklungen auf unserem Gebiet hautnah.“ Grundlagenforschung sei nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Leidenschaft, findet Bonanni. „Oft kommt bei einem Projekt etwas ganz anderes heraus als ursprünglich erwartet.“

Nichtsdestotrotz gingen mit jedem Schritt wieder neue Türen auf: „Manchmal ist es sogar etwas Besseres“, schmunzelt die Forscherin und verweist auf die Topologie, der George Gamow, der berühmte Physiker, noch in den 1960er-Jahren zuschrieb, niemals eine praktische Anwendung zu finden. Womit wir wieder bei der Lust der Forschenden wären, die Dinge auf den Kopf zu stellen.