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Hypertext

Um eine Wissensgesellschaft zu bauen, müssen wir Zusammenhänge verstehen und erklären können. Darin wird Digitalisierung zu dem, was sie sein soll: ein Werkzeug von Vielfalt, Innovation und gelungenem Leben.

Von Wolf Lotter

Was braucht der Mensch an Wissen, um in den kommenden Jahrzehnten bestehen zu können? Damit beschäftigt sich diese Ausgabe. Es geht um die großen Denkwerkstätten unserer Zeit, um die Hochschulen und Universitäten, die uns bilden und ausbilden. Die Frage, die sich folgerichtig anschließt, lautet: In welchen Gebäuden werden wir das tun? In welchen Gebäuden werden wir denken, arbeiten, leben? Wie wird die Welt einmal aussehen, in der wir existieren? In welchen Räumen werden wir uns bewegen, wo und wie wird sich unser Leben gestalten? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben wir die Universität für angewandte Kunst Wien, Kooperationspartner der Johannes Kepler Universität Linz, gebeten, uns ausgewählte Diplomarbeiten zur Verfügung zu stellen. Sie denken über den Tellerrand hinaus, sie zeigen Visionen von den Räumlichkeiten der Zukunft. Jedes der Bilder hat ein eigenes Konzept, eine eigene Vorstellung, die zum Leben erweckt wird. Jedes Bild zeigt eine eigene Welt. Hier sehen wir den Prototyp einer aus Teichen und Gärten konstruierten Regenwasserversickerungsanlage. Am Stadtrand von Brasilia gelegen, stellt sie einen Versuch dar, notwendige Infrastruktur neu zu denken und mit dem urbanen Raum zu vereinen. Bildcredit: Katia Simas, Fostering Ecotones, SS 2020, Studio Díaz Moreno & García Grinda, Institut für Architektur

Es ist gut zwei Jahrzehnte her, dass der damalige Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Heinrich von Pierer, in einem Gespräch mit einem deutschen Wirtschaftsmagazin einen Stoßseufzer tat. „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“ wurde zu einer populären Phrase in der Diskussion um die Wissensgesellschaft und ihre zentrale Frage: Wie viel Durchblick erlaubt eine komplexe und immer komplexer werdende Welt eigentlich? Wie schaff en wir es, Wissen zu teilen, also, mit Konrad Paul Liessmann, etwas nicht nur zu verstehen, sondern auch erklären zu können?

Diese Frage ist alles andere als banal. In immer mehr Fachgebieten spalten sich Spezialistinnen und Spezialisten in immer feinere Nischen ab. Selbst in den Nischen funktioniert der alltägliche Wissenstransfer immer schwieriger und das große Wort vom interdisziplinären Arbeiten und Denken ist längst zu einem akademischen Buzzword verkommen, das man umso häufiger bemüht, je weniger dessen gemeinter Sinn im Alltag anzutreffen ist. Wir verstehen die Welt nicht mehr. Das ist nicht allein ein persönliches Problem geworden, eine individuelle Entfremdung. Auch Institutionen, Organisationen, die in der Moderne das Wissen der Einzelnen gespeichert und anwendbar gehalten haben, erleben den Ausspruch Heinrich von Pierers immer öfter. Da hilft auch kein Zweckoptimismus. Wir stehen in einer Wissensgesellschaft, mit der wir nicht umgehen können. Der fantastische Peter Drucker, der aus Wien stammende Vordenker des Managements, vor allem aber auch der Wissensgesellschaft, hat es vor Jahrzehnten in seiner Arbeit „Die Postkapitalistische Gesellschaft“ auf den Punkt gebracht: „Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.“ Dazu muss die junge Wissensgesellschaft, die sich für das 21. Jahrhundert so vielvorgenommen hat, erst mal anfangen, sich selbst ernst zu nehmen. Sie muss also anfangen, ihre Angst vor Komplexität abzulegen.

Wissensarbeit aber ist eine persönliche Sache

Komplexität wurde bisher immer nur auf verschiedene Art reduziert, es geht aber darum, sie zu erschließen. Arbeitsteiligkeit ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis der Industriellen Revolution gewesen. Spezialisierung schaff t, wie bereits die Verfasser der Encyclopédie Française wussten, jene Wachstumssprünge, die wiederum den Motor des Fortschritts und der Technik in den vergangenen 250 Jahren am Laufen hielten. Die Moderne ist Spezialisierung, aber der Motor kommt ins Stottern und fällt schließlich ganz aus, wenn diese Spezialisierung zu dem wird, was wir heute beobachten: zur geschlossenen Gesellschaft, die andere Themenbereiche und Interessen nicht mehr befruchten kann und sich der Teilhabe und dem Wissensteilen entzieht. Digitalisierung ist hier ein zentrales Beispiel, das beste unserer Tage. Unter dem Schlagwort wird allerhand verstanden und noch mehr missverstanden. Es geht keineswegs darum, dass bereits Fünfjährige das Coden, das Programmieren lernen. Das ist ein Missverständnis, das aber wieder ganz stark auf die Ursache unserer Fehlsichtigkeit, was Vielfalt und Komplexitätserschließung angeht, verweist. Denn wir glauben, dass mehr an reproduzierbarer Bildung besser ist. Wir stellen, ganz in der Tradition des industriellen Bildungsauftrags, der unsere Vorstellung von Schule und Universität bis heute prägt, Fachleute her. Spezialisten und Spezialistinnen, die man nach Norm und Standard ausbildet und auch wieder leicht ersetzen kann. Wissensarbeit aber ist eine persönliche Sache. Wieder hilft uns Drucker auf die Sprünge. Der Wissensarbeiter weiß mehr über seine Arbeit als sein Chef, so kann man ihn sinngemäß zitieren. Das scheint eigentlich klar zu sein – eigentlich, denn unsere Organisationen sind keineswegs so angelegt, dass selbstständiges und selbstbestimmtes Arbeiten eine Selbst-Verständlichkeit wären.

Neugierde und Zukunft statt Angst vor Komplexität

Zwar geht die Entwicklung unzweifelhaft dorthin, aber sie läuft in einer dafür denkbar unfreundlichen Umgebung ab – in alten, hierarchischen, nach Reproduktionsmustern gestalteten Organisationen. Wissensarbeit ist Netzwerkarbeit, Tätigkeit und Kommunikation, die on demand, nach Bedarf, entsteht. Wer Digitalisierung ernst nimmt, erkennt darin vor allen Dingen nicht eine technische Innovation – bei der ganz banal das, was heute analog ist, irgendwie ins Digitale übersetzt wird –, sondern eine grundlegende soziale und kulturelle Innovation. Es geht nicht um „analog“ und „digital“, es geht darum, in Netzwerken zu denken – also in Zusammenhängen, die jeweils neu und originär entstehen –, und nicht mehr darum, als „zentraler Zusammenhang“, als Doktrin, Dogma und „eiserne Regel“ Abläufe zu kontrollieren, zu steuern oder auch nur maßgeblich zu beeinflussen. Zusammenhänge brauchen das Individuum, das in der Lage ist, das, was es kann und will, mitzuteilen, zu artikulieren, und das gilt natürlich auch für das Wissen, das zur wichtigsten Ressource von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft wird.

Digitalisierung, die nicht Selbstzweck, also reiner Digitalismus sein will, ist Handwerk und Werkzeug für das Schaff en von Zusammenhängen, fürs Netzwerken. Wo Wissen verstanden und erklärt werden kann, herrscht Zuversicht, Neugierde und Zukunft statt Angst vor Komplexität. Hier haben wir es, jenes Produktivmachen von Zusammenhängen, von dem Peter Drucker sprach. Von Innovation soll man also sprechen, wenn sie mehr ist als eine technische Neuerung, sondern eben soziale und kulturelle Veränderung, Transformation, befördert.

Digitalisierung über den reinen Selbstzweck hinaus

Das, was wir Digitalisierung nennen, beginnt vor der Mitte des 20. Jahrhunderts, bleibt aber für die meisten Menschen ein Mythos. Bis in die 80er Jahre, dem Zeitalter der Home- und Personalcomputer, kennen die meisten Menschen Computer nur vom Hörensagen oder aus Filmen und Fernsehen, wo sie unsere Vorstellungen maschineller Intelligenz prägen, was heute vielfach für Verwirrungen rund um den Begriff der Künstlichen Intelligenz sorgt. Zusammenhänge, die Wissen produktiv machen, entstehen eben erst durch die PC-Revolution der 80er Jahre und den Aufbruch des Internets seit den 90er Jahren. Timothy Berners-Lees Basistechnologie HTML (Hypertext Markup Language) ist ein Symbol für Zusammenhänge, Kontextualisierung, Kontextkompetenz, also Wissensarbeit im reinsten Sinne. Der amerikanische Wissensmanager Vannevar Bush (As We May Think, 1945) und Ted Nelson, der in den 1960er Jahren den Begriff Hypertext prägte, hatten eine Kernidee des Humanismus gründlich verstanden: Man darf Komplexität nicht einfach reduzieren. Man muss Werkzeuge und Methoden zu ihrer Erschließung entwickeln und denken. Das wird, weil wir vieles noch mit dem Blick der Nische sehen, nicht systemisch genug denken, nach wie vor unterschätzt. Denn mit dieser Idee sind Bush, Nelson und Berners-Lee für die Wissensgesellschaft das, was Isaac Newton und Albert Einstein für die klassische Physik waren, oder besser: Sie sind die Bohrs und Heisenbergs der Wissensgesellschaft.

Denn sie denken nicht mehr nach dem Prinzip des Entweder-Oder, des abendländischen Universalismus, sondern sind in der Lage, ein Sowohl-als- auch zu beschreiben. Das Digitale, das Technische, es ist nicht an und für sich da, es besteht nicht aus binären Codes und Platinen, Algorithmen und Modellen, es besteht aus menschlichen Ideen, Sehnsüchten und Interessen. Diese Digitalisierung schaff t lebenspraktische Zusammenhänge, Mittel und Zweck sind nicht mehr sinnvoll ohne einander zu denken. Diese Digitalisierung will etwas, sie führt zu etwas, das über den reinen Selbstzweck hinausgeht. Sie schaff t Innovation, Wissen, Möglichkeiten.

Digitalisierung und Wissensarbeit, die Zusammenhänge schafft, sind ein Netzwerk, in dem alle finden, wonach sie suchen, ohne dass dieses „Alles“ vereinheitlicht oder normiert werden müsste – von technischen Standards des Zugangs abgesehen. Netzwerke sind in diesem Sinne Systeme zur Erschließung, Erzeugung und Verbreitung von Komplexität. Netzwerke sind in der Lage, Individualität und Gemeinschaft komplementär zu denken, nicht ausschließend, exklusiv als Widerspruch, wie das bis heute in unserer Kultur noch der Fall ist. Man kann sein Wissen, sein Können, sein Leben leben – und gleichsam anderen dabei helfen, das auch für sich selbst hinzubekommen. Das ist der Sinn aller Technik, Wissenschaft, Methode, auch der Digitalisierung.

In Silos wird niemand klüger

Das geht aber nicht, wenn man zum Fachidioten wird, der andere nicht mehr verstehen will. In Silos wird niemand klüger. Es geht um Austausch. Wo nichts (und niemand) verstanden wird, bleibt alles und bleiben alle einander fremd. Das Versprechen der Aufklärung heißt Selbstbestimmung. Es wird gebrochen, wenn wir nur unter uns und an uns denken. Digitalisierung ist, wie auch die Ökonomie und die Organisation, die nicht weiß, was sie weiß, zur Blackbox geworden, zur geschlossenen Anstalt. Da hilft das bloße Wiederholen des „Digitize or Die“-Angstmottos so wenig wie die Beschwörung der „Digital Natives“, jener naiven und intellektuell faulen Generationsformeln, bei denen man die Probleme einfach weiterreicht. Auch die Jungen durchschauen die Blackbox nicht. Sie kaufen nur jedes Jahr ein neues Smartphone und wechseln die Apps. Es geht darum, dass das, was hinter der Digitalisierung steckt, was sie bewirkt, was sie an Gutem – und Schlechtem – kann, verstanden wird, dass die Zusammenhänge, die sie schafft, begriffen werden. Dazu braucht man mehr als nur Phrasen und eine Hülle. Man braucht den Willen, etwas zu wissen und erklären zu wollen. Also das, was man kann, zu teilen. Und an dem, was man kennt, zu zweifeln. Wer die Welt gestalten will, muss sie erst verstehen Im Januar 2005 installierte der norwegische Künstler Lars Ramberg auf dem Dach des sogenannten Palastes der Republik, dem Sitz der Volksvertretung der ehemaligen DDR, sechs Meter hohe Buchstaben, die nachts beleuchtet über der Stadt Berlin standen. Man las das Wort „Zweifel“. Wie gut würde das auch den traditionellen westlichen, abendländisch und industriell geprägten Bildungseinrichtungen und Organisationen stehen. Von René Descartes, dem Ahnherrn der Aufklärung und der Moderne, stammt die Einsicht, dass das „Zweifeln der Weisheit Anfang“ wäre. Innovationen und Problemlösungen, die Essenz der Wissensarbeit, entstehen dadurch, dass man sich mit dem, was ist, nicht zufriedengibt, nach besseren Erklärungen sucht oder einfach auch nur nach anderen. Alternativlos, das ist nur die Welt der Dogmen. Die Wissenschaft, der Fortschritt, die Wissensarbeit ist ein ständiges konstruktives Zweifeln. Dieses Wort sollte auf jeder Hochschule und Organisation in ebenso großen Lettern wie einst auf dem Palast der Republik stehen. Zweifel. Um das Wissen voranzubringen – und das heißt immer: bessere und individuellere Lösungen für das Individuum zu schaffen. Dem Wort Zweifel wäre noch das Wort Kontext hinzuzufügen. Zweifel & Kontext. Zusammenhänge machen erst verständlich, was wir meinen, wenn wir etwas sagen. Wer Begriff e und Ereignisse aus ihrem Zusammenhang, ihrem Kontext, reißt, der verändert ihren Inhalt.

Als das Internet noch große Hoffnungen zu machen imstande war, hieß es: Content is King. Aber wir haben darüber vergessen, dass Content ohne Kontext ein ziemlich machtloses Wesen ist. Es hat nichts zu sagen. Deshalb machen sich heute so viele auf, nach dem Sinn und Zweck, dem Purpose, zu fragen. Wieder andere verzetteln sich im Identitären und in identitätspolitischer Pose, die das Fehlen verständlicher Inhalte und Zusammenhänge verschleiern soll. Dritte wiederum flüchten sich in Formalien, sie reden gerne über Technik, Methoden, Werkzeuge. Sie machen das Mündel zum Vormund. Genau das aber kann sich eine mündige Gesellschaft nicht bieten lassen.

Man kann die Entwicklung zur Wissensgesellschaft nicht von jener zur Zivilgesellschaft trennen. In beiden braucht es erwachsene Gesellschafter, die wissen, was sie tun, die die Medien und Verhältnisse, in denen sie agieren, kennen und verstehen – wenn auch nur grundlegend. Wir müssen nicht alle Expertinnen und Experten für alles werden. Aber wer die Welt gestalten will, muss sie erst einmal verstehen. So müssen wir heute daran zweifeln, dass das, was ist, genügt. Wir müssen der Entfremdung zwischen Wissenschaft und Bürgerinnen und Bürgern entgegentreten. Das kann man nicht, indem man immer laut „Digitalisiert euch!“ ruft, sondern nur, indem man jedem und jeder Einzelnen Zugänge zeigt, wie die Werkzeuge der Digitalisierung für ein besseres Leben und Wirtschaften genutzt werden können. Gute Bildung vermittelt Kontextkompetenz, die Fähigkeit, Wissen alltagstauglich zu machen. Digitalisierung, das kann deshalb nur heißen: Zurück ins wirkliche Leben, zu den unzähligen Fragen, die im Leben eines Menschen auftauchen und zu deren Präzisierung das Werkzeug des Wissens und der Technik etwas beitragen kann. Kontextkompetenz, das ist Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, die nicht im Entweder- Oder der alten Kultur besteht. Kontextkompetenz ist das Werkzeug zur Bewältigung des Alltags.

Humanismus ist die Antwort, denn Humanismus schaff t Zusammenhänge, er stellt das Wir neben das Ich und macht aus einem Widerspruch eine Lösung. Es ist der Geist der Verbindung, der große Hypertext der Menschheit, der uns das sein lässt, was wir sein wollen, und uns gleichsam die Welt erschließt. Stefan Zweig hat über den größten Humanisten Europas, Erasmus von Rotterdam, geschrieben, dass dessen „Lebenssinn die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität“ sei. Dieser Humanismus überwindet die Polarisierung und den identitären Wahn, das Fachidiotentum, die Entfremdung und die Silos unserer Zeit. Er öffnet die Fenster. Humanismus erschließt Komplexität. Humanismus schaff t Zusammenhänge, er hilft uns, uns und die anderen zu verstehen. Das ist Vielfalt, die Ressource der Wissensgesellschaft und des guten Lebens. Vielleicht sogar unseres Glücks.