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„Im Talar sitzt eine Richterin, keine Maschine“

Der neue Schwerpunkt „Procedural Justice“ an der JKU Linz richtet das Augenmerk auf die Wege, die zur Umsetzung von Recht führen. Ein Forschungsgegenstand sind die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz in der Gerichtsbarkeit.

Von Benedikt Kommenda

Die Nadel eines Lügendetektors schlägt aus.

Recht zu haben bedeutet nicht auch zugleich, Recht zu bekommen. Denn was nützt der schönste Anspruch, wenn er sich nicht durchsetzen lässt? Damit angesprochen ist das mitunter zu beobachtende Auseinanderklaffen von materiellem Recht, das über das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen und Verpflichtungen entscheidet, und dem Prozessrecht, welches das Erheben und Abwehren von Forderungen in rechtlichen Verfahren regelt. Die JKU Linz setzt jetzt einen neuen Schwerpunkt, in dem sie sich intensiv mit der Struktur von Verfahrensordnungen und Verfahrensrealitäten im rechtlichen Bereich befasst. Eine Auftaktveranstaltung zu diesem Forschungsschwerpunkt „Procedural Justice“ hat kürzlich erste Eindrücke vermittelt, welche spannenden Fragen auf diesem Gebiet zu verhandeln sind.

Für Rektor Meinhard Lukas, selbst Professor für Zivilrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, kommt damit Licht in einen Bereich, der viel zu lange im Dunkeln geblieben ist. „In den Rechtswissenschaften beschäftigen wir uns seit vielen Jahrzehnten, um nicht zu sagen, Jahrhunderten mit materiellen Details, aber dem Thema Procedural Justice haben wir bisher nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet“, sagte Lukas zur Eröffnung der Kick-off-Veranstaltung, die dem Thema „Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Gerichtsbarkeit“ gewidmet war. Werden bald Computer die Beweisaufnahme und die rechtliche Beurteilung übernehmen?

Eine – zumindest theoretische – Möglichkeit wäre der Einsatz von Lügendetektoren zur automatisierten Einschätzung, ob Beschuldigte, Opfer oder Zeug*innen die Wahrheit sagen. Funktionieren sie denn auch wirklich? In der hybriden Veranstaltung, in der die meisten Sprecherinnen und Sprecher persönlich anwesend waren, das knapp 200 Personen zählende Publikum jedoch über eine Zoom-Konferenz zugeschaltet war, erfolgte die Probe aufs Exempel. Eine Richterin des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich stellte sich als Testperson zur Verfügung: Für das Publikum sichtbar legte sie einen Geldschein in einen von zehn Tresoren. Der Computer, der mit der passenden Software ausgestattet war („EyeDetect“), um bewusste Falschaussagen der Probandin zu entdecken, konnte es nicht „sehen“.

Denn seine Kamera war ausschließlich auf die Augen der Testperson fokussiert, die ihren Kopf ähnlich wie beim Augenarzt abgestützt in Richtung Laptop halten musste. Mehrmals nacheinander stellte der Computer auf seinem Bildschirm fein variierte Fragen über die zehn Boxen. Die Versuchsperson sollte die Wahrheit verheimlichen, den Computer über den Verbleib des Geldes gleichsam anlügen. „Der Tresor, den ich nicht wählte, war Nummer 1“, „Nummer 5 ist der Tresor, in dem das Geld liegt“, „Heute wählte ich Nummer 6“ oder „Nummer 9 war nicht meine Wahl“. Zur Auflockerung gab es zwischendurch „Fragen zum Allgemeinwissen“, ebenfalls mit einem Klick auf „wahr“ oder „falsch“ zu quittieren: „Paris ist die größte Stadt von Neuseeland.“

Kognitive Belastung beim Lügen

Der Computer rechnete und kam zum Ergebnis: Bei Tresor Nummer 7 besteht die höchste Wahrscheinlichkeit, dass die Probandin fälschlich verneint hat, das Geld hineingelegt zu haben. Und wirklich: Hinter Tür Nummer 7 lag der 20-Euro-Schein. Offenbar waren die Pupillenbewegungen der Testperson bei den Antworten zu Tresor 7 immer am größten – eine Folge der erhöhten kognitiven Belastung beim Lügen, wie Dekan Michael Mayrhofer erläuterte.

„Das war ein guter Treffer“, sagte nach dem Test die online zugeschaltete Renate Volbert, Professorin an der Psychologischen Hochschule Berlin und führende Expertin für Glaubhaftigkeitsbegutachtung im deutschsprachigen Raum. Menschliche Urteile über die Wahrheit von Aussagen fallen oft weniger treffend aus. Volbert verwies auf eine Meta-Untersuchung zu dem Thema, nach der bei Zehntausenden Urteilen, Aussagebewertungen und anderen Expert*inneneinschätzungen über wahre oder erfundene Aussagen die Gesamttrefferquote nur bei 54 Prozent liege. Eine Zufallsbewertung durch Würfeln würde 50 Prozent Treffer liefern. Das menschliche Urteil ist also signifikant besser, aber für Volbert „nicht besonders beeindruckend“.

Hilfe von Lügendetektoren

Dennoch dürfte der Lügendetektor noch weit entfernt sein von einem Einsatz im großen Stil. Denn zum einen ist er politisch sehr umstritten, wie etwa das EU-Projekt iBorder-Control gezeigt hat: Dabei sollte Künstliche Intelligenz herausfinden, ob Einreisewillige die Wahrheit sagen, indem während einer kurzen Unterhaltung mit einem virtuellen Grenzbeamten die Mikroexpressionen im Gesicht von Interviewten gemessen werden. Das Projekt wurde sehr kontrovers diskutiert. Zum anderen laufen, wie Volbert ausführte, beim Täuschen ganz unterschiedliche psychologische Prozesse ab, je nachdem, ob es um ein Bestreiten geht wie im Test, um ein Verschweigen von Informationen oder um ein Erfinden von angeblich Vorgefallenem. Wenn überhaupt, dann passt der Lügendetektor keinesfalls in allen Situationen gleich gut.

Dazu kommen juristische Einwände, wie Justizministerin Alma Zadić online in der von Dekan Mayrhofer moderierten Diskussion anmerkte. Es sei unzulässig, die Willensbestimmung von Beschuldigten auszuschalten, sagte die Ministerin. Straftäter*innen können also keinesfalls mithilfe von Lügendetektoren überführt werden. Bei den Gerichten sieht man sich weit davon entfernt, gerade so sensible Aufgaben wie die Beweiswürdigung an Computer zu übertragen. „Im Talar sitzt eine Richterin, keine Maschine“, betonte Katharina Lehmayer, Präsidentin des Oberlandesgerichts. Lügen festzustellen sei ein komplexer Vorgang, der auch psychologische und ethische Aspekte habe – ein „Puzzlebild“, das sich nicht bloß aus einer Aussage ergebe.

Friedrich Hintersteininger, Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Linz, bestätigte, dass Künstliche Intelligenz „sicher nicht für die Beweiswürdigung“ eingesetzt werden könne. Sehr wohl aber wünsche er sich Unterstützung in der Datenanalyse, wenn es gelte, Finanzströme zu analysieren und „100.000 Chats“ nach relevanten Schlagwörtern abzusuchen. Eine weitere Einsatzmöglichkeit sieht Hintersteininger bei der Telefonüberwachung im Suchtgiftbereich: „Wenn es Maschinen gäbe, die auf bestimmte Schlagwörter reagieren, wäre das hilfreich“, sagte der leitende Oberstaatsanwalt. Denn oft müssen Dolmetscherinnen und Dolmetscher wochenlang Telefonate mithören, um an Beweismaterial zu kommen.

Die Unmittelbarkeit der Justiz

In der Verwaltungsgerichtsbarkeit sieht man zwar ebenfalls noch lange keine Computer im Talar sitzen. Aber als Assistenten könnten sie sehr wohl zum Einsatz kommen, vor allem in Rechtsmaterien, die durch relativ klare Wenn-dann-Regeln gekennzeichnet sind. Das gilt etwa für das Straßenverkehrsrecht, wo es keiner ausgefeilten Interessen- oder Güterabwägung bedarf, wenn beispielsweise jemand das Auto abgestellt hat, ohne die Parkgebühr zu entrichten. In solchen Situationen könnten Computer die Richterinnen und Richter unterstützen, findet Johannes Fischer, Präsident des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich: „Wenn der Sachverhalt festgestellt ist, könnte Künstliche Intelligenz einen Entscheidungsentwurf unter Einbeziehung der Literatur und der Judikatur machen, der nur einer Letztgenehmigung des Richters bedarf“, sagte Fischer.

Diese Letztverantwortung des Menschen muss auch aus Sicht der Rechtsanwaltschaft unbedingt gewahrt bleiben. „Es braucht die Unmittelbarkeit der Justiz“, betonte Franz Mittendorfer, Präsident der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer. „Es gibt einen Anspruch von Betroffenen, vor dem Richter oder der Richterin zu stehen und Zugang zum Recht zu haben.“ Demgemäß setzt auch Justizministerin Zadić stark auf die unterstützende Funktion der Digitalisierung, etwa bei der Aktenführung. Bis Ende dieses Jahres soll das strafrechtliche Ermittlungsverfahren voll auf den digitalen Akt umgestellt sein, 2025 will Zadić die komplett digitalisierte Aktenführung erreicht sehen.

Zurück an die JKU Linz. Rektor Meinhard Lukas ortet in der Rechtswissenschaft, der Rechtsprechung und der Verwaltung einen der größten Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte. „Das hat mit den Möglichkeiten der Digitalisierung zu tun, aber auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Rechtsprechung und Verwaltung, und auch das Verhältnis der Politik zur Justiz und Verwaltung hat sich verändert“, sagte Lukas. Er sei froh, an einer Fakultät zu sein, die sich diesen Transformationsprozessen stellt.

Die Universität wird den neuen Schwerpunkt „Procedural Justice“ organisatorisch durch die Einrichtung eines eigenen Instituts unterstützen. Auch das seit Herbst 2020 an der JKU geführte neue rechtswissenschaftliche Studium nach Bologna-Architektur (mit Bachelor und Master) hat einen Fokus in diesem Bereich, ergänzte Dekan Mayrhofer.