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Immer schön flach halten

Es ist nicht lange her, da hat es noch so gut wie niemanden interessiert, worüber Virologinnen und Virologen gerade so nachdenken. Das hat sich nun schlagartig geändert. Die ganze Welt wartet auf die große Erlösung und bringen kann sie, so viel ist klar, nur die Wissenschaft. Aber mit Ungeduld tut sie sich schwer.

Von Saskia Jungnikl-Gossy

Ein Geflügelbauer macht sich Sorgen um seine Hühner. Sie haben plötzlich aufgehört, Eier zu legen, und deshalb bittet er einen seiner Freunde, einen Physiker, um Hilfe. Der kommt auf die Farm, nimmt Messungen vor, analysiert die Daten und erklärt: Ich habe eine Lösung für das Problem – sie funktioniert allerdings nur mit kugelförmigen Hühnern in einem Vakuum. Falls Sie das nicht lachen lässt, kein Problem, es ist ein Witz von Physiker*innen für Physiker*innen, bekannt durch die US-amerikanische Sitcom „The Big Bang Theory“. Im Kern geht er davon aus, dass Physikerinnen und Physiker zwar alle Probleme lösen können – aber nur unter vereinfachten Bedingungen in einem theoretischen Rahmen, der in der Praxis nie zur Anwendung kommen kann.

So ein ähnlicher Witz könnte auch über Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler generell geschrieben werden, nämlich: Sie werden das Problem, was immer das sein mag, schon lösen – man muss ihnen dazu aber mindestens zehn Jahre Zeit geben. Das wiederum ist witzig, weil es das Kennzeichen der Wissenschaft ist, dass sie langsam arbeitet. Das ist legitim, schließlich braucht es ständige Kontrollen, Re-Checks und Doublechecks. Wenn die Ergebnisse in Jahren publiziert werden, sollen sie ja stimmen. Aber so viel Zeit war diesmal nicht.

Die Coronavirus-Erkrankung (COVID- 19), eine Infektionskrankheit, die durch ein neuartiges Virus verursacht wird, hat die Welt in eine andere verwandelt. Das gesellschaftliche Leben erlebte eine Zäsur. In Österreich wurden mit März Schulen und Kindergärten geschlossen wie auch Restaurants und Bars, Museen, Theater und Kinos. Österreich stand still. Die Bundesregierung, genauer gesagt Bundeskanzler Sebastian Kurz, Vizekanzler Werner Kogler, Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Innenminister Karl Nehammer, hatte die entsprechenden Empfehlungen und Verordnungen veranlasst. Und zwar auf Rat von Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft.

Große Aufmerksamkeit und nicht weniger große Zweifel

Flatten the Curve war das Motto, die Kurve der Infizierten sollte flach gehalten werden, um zu verhindern, dass zu viele Menschen in zu kurzer Zeit an dem Virus erkranken und das Gesundheitssystem überlasten. Das ergab für die meisten Menschen Sinn, vor allem nach den Bildern aus Italien, Spanien und Frankreich, wo die Todeszahlen an manchen Tagen fast die Tausendergrenze überschritten. Doch mit den Wochen begannen Experten in Medien gegenteilige Ansichten zu äußern, was kam, waren Zweifel am Handeln der Regierung – und damit auch an den von ihnen befragten oder besser gehörten Experten. In Phase eins des Lockdowns folgte die Allgemeinheit den Vorgaben von Wissenschaft und Politik noch beinahe ohne Murren, in Phase zwei war das nicht mehr ganz so. Die Fragen, die lauter wurden, lauteten: Sind wir auf dem richtigen Weg? Was ist das ideale Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft? Sind alle Empfehlungen der Wissenschaft zu befolgen? Wer ist das, „die Wissenschaft“? Und: Sollte in Krisenzeiten besser ein Virologe Kanzler sein?

Die aktuelle Krise zerrte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ihrem Schattendasein mitten in das Licht der Öffentlichkeit. Plötzlich stehen sie bei Pressekonferenzen neben Politikern, sind in die politische Entscheidungsfindung eingebunden. Regierungen weltweit werben damit, dass sie Experten zurate ziehen und sich deren Rat beugen. Ihre Namen sind der Bevölkerung geläufig, sie wurden zu Stars in den Medien. Der deutsche Virologe Christian Drosten, ihn kennt mittlerweile wirklich fast jeder, wird in sozialen Medien gar als neues Sexsymbol gehandelt. Momentan sei die Corona-Krise wie eine Operation am offenen Herzen, sagt Drosten, der über seine Arbeit und Erkenntnisse sehr transparent berichtet. Die Politik verlangt jetzt nach schnellen Einschätzungen und Ergebnissen, eben weil sie selbst schnell entscheiden muss.

Das ist keine Situation, die der klassischen wissenschaftlichen Arbeit entspricht. Daran könnte es auch liegen, dass sich ein paar Dinge jetzt anders anhören als noch vor ein paar Wochen. So galten Kinder zu Beginn der Krise als Hauptüberträger, nun, nach genügend Zeit für eine Studie, ergeben die Fakten ein anderes Bild, Kinder sind nicht mehr oder weniger ansteckend als Erwachsene. Gesichtsmasken wurden als unnötig eingestuft, heute muss sie jeder Mensch in Geschäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln tragen. Eine Zeit lang hieß es, Corona könne keine Pandemie werden, nun ist es eine.

Verschiedene Experten, verschiedene Berechnungen und die Frage: Wer hat nun recht?

Der Arzt und Public-Health-Experte Martin Sprenger war Teil des Beraterstabs im Sozialministerium zum Management der Corona-Pandemie und verließ diesen Anfang April. Über das Vorgehen der Regierung sprach er mit dem Rektor der Johannes Kepler Universität (JKU), Meinhard Lukas, im JKU Corona Update und auf der Plattform Addendum. Dort kritisierte Sprenger ehemalige Kollegen aus dem Beraterstab, die sich seiner Meinung nach mit ihren Modellen besser zurückgehalten hätten: „Was sich Mathematiker in den letzten vier Wochen verrechnet haben, muss auch einmal in eine eigene Publikation.“

Doch genau auf die Expertise und Modelle dieser angesprochenen Gruppe aus Mathematikern und Biologen, die meisten von der Uni Wien, berief sich Bundeskanzler Sebastian Kurz, als seine Regierung Ende März die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung verschärfte – und etwa das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Supermarkt verpflichtend wurde. Im Expertenpapier wurde mit „zehntausenden Toten und einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems“ und möglicherweise „100.000 zusätzlichen Toten“ gerechnet. Im Krisenstab gab es allerdings auch ein anderes Modell, errechnet von Mathematikern der Technischen Universität Wien rund um den Simulationsforscher Niki Popper. Zum damaligen Zeitpunkt sei ihm klar gewesen, dass den Österreichern „italienische Verhältnisse“ erspart bleiben würden, sagt er im Gespräch mit der Wochenzeitung Falter. In einem auf falter.at veröffentlichten Papier heißt es: „Wie jedes mathematische Modell kann es nur Aussagen in der Form von ‚WENN …, DANN …‘ (sic!) treffen. Mit anderen Worten: Solche Modelle sind keine Glaskugel, sondern ermöglichen Abwägungen. Ein dabei von uns durchgerechnetes Szenario ist beispielsweise: WENN sich die Epidemie völlig ohne Maßnahmen und ohne Änderung des Verhaltens entwickeln würde, DANN wäre in Österreich ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems und zehntausende Tote schon nach wenigen Monaten zu erwarten. In der Praxis wäre dies kaum realistisch.“

Bloß: Wer hat nun recht? Die Gruppe aus Mathematikern oder deren Kritiker wie Sprenger und Popper? Ganz falsch liegt wohl keine der beiden Seiten. Vielmehr zeigt dieses Beispiel, dass man die aktuelle Situation differenzierter betrachten muss. Der Umgang mit dem Virus wird nämlich beispielgebend sein, aber er folgt noch keinem. Es wird ab und zu auf die Spanische Grippe verwiesen, doch die war im Jahr 1918, lief also unter ganz anderen gesellschaftlichen, medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ab. Das, was Wissenschaftler momentan machen, ist, Wissen zu generieren. Immer mehr Studien, immer mehr Ergebnisse geben immer mehr Sicherheit. Doch das dauert und die ersten Entscheidungen mussten unter Zeitdruck getroffen werden und die einzige Möglichkeit war, einen möglichst ähnlich gelagerten Fall zu nehmen und daraus Ableitungen zu treffen. Daraus folgt: Zu einzelnen Fragen gibt es keinen Konsens.

Mangelhafte und widersprüchliche Daten

In der Bevölkerung mag das, was gerade passiert, widersprüchlich scheinen, tatsächlich aber liegt es im Wesen der Wissenschaft, dass sie Dinge laufend revidieren kann. Neue Daten führen zu neuen Erkenntnissen. Das war schon immer so, nur bisher lief das meistens völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit ab. Doch in einer Krise wie dieser wird nach Sicherheit gesucht und die Wissenschaft, jenes solide, auf Fakten basierende Bollwerk der Intelligenz gegen populistische Annahmen, soll diese Sicherheit geben. Es gilt Wissen gegen Spekulation, Fakten gegen Willkür.

Es wird komplexer, wenn man sich bewusstmacht, dass Wissenschaft immer mit dem Sammeln oder dem Analysieren von Daten zusammenhängt. Wenn diese Daten ungenau oder fehlerhaft sind, ist klar, dass die Berechnungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schwankungsbreiten unterliegen und sich mit klaren Empfehlungen an die Politiker schwertun. Das kritisieren Datenjournalisten in Österreich seit Beginn der Krise. Datenjournalismus, eine Spielart des Journalismus, wo vor allem in Datensätzen recherchiert wird, wird von seinen Proponenten gern als „Data journalism is social science on deadline“ beschrieben. „In den sieben Wochen seit Bekanntwerden des ersten COVID-19-Falles in Österreich wurden Daten mehrfach mangelhaft oder widersprüchlich in unterschiedlichen Formaten, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und nicht maschinenlesbar bereitgestellt“, schreibt zum Beispiel Michael Matzenberger, Head of Data bei der Tageszeitung Der Standard.

Am eindrucksvollsten lässt sich diese Misere wohl damit beschreiben, dass es in und für Österreich zwei unterschiedliche Corona-Todeszahlen gibt – eine vom Gesundheitsministerium und eine vom Innenministerium. Keine davon ist übrigens falsch. Das Innenministerium zählt nämlich „mit dem Coronavirus Verstorbene“, das Gesundheitsministerium „am Coronavirus Verstorbene“.

Es braucht eine Pluralität der Stimmen

Zu dieser schlechten Datenbasis passt ein weiterer Kritikpunkt: Der Krisenstab der Regierung besteht vor allem aus Intensivmedizinern und Virologen. Ein Problem, sagt Julian Reiss, Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Johannes Kepler Universität in Linz, denn: „Wir brauchen eine Pluralität von Stimmen.“ Zunächst sollte es innerhalb einer Fachrichtung, also etwa der Virologie, eine ausreichende Menge an Stimmen geben, bei der sich eine Mehrheit der Stimmen für eine Meinung ausspricht. Zweitens sollte die Bandbreite an Auswirkungen und Gesichtspunkten abgedeckt werden, also nicht nur ein einzelnes Fach hergenommen werden, sondern etwa neben der Virologie auch die Ökonomie, die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen bedacht und von jeweiligen Experten gehört werden. Sprechen mehrere Stimmen mit, dann mildert das ein mögliches Fehlurteil ab. Und schlussendlich muss dann der Politiker die Entscheidung über Maßnahmen treffen. Reiss fordert: Politik müsse sich mehr darüber bewusst sein, was Wissenschaft leisten kann und was nicht. Einzelne Wissenschaftler decken ihre jeweiligen Fachgebiete ab – nicht mehr und nicht weniger. Virologen etwa können die Eigenheiten des Virus analysieren, sie können aber nichts über die ökonomischen Folgen einer Krise sagen. Ein Ökonom kann etwas zum Wirtschaftswachstum sagen, unmöglich aber die psychischen Folgen von Personen abschätzen, die wochenlang völlig alleine sind. „Kein Wissenschaftler hat eine Expertise, die so breit angelegt ist, um alle psychologischen, medizinischen oder kulturellen Folgen abzuschätzen“, sagt Reiss.

Und dann sind Fakten auch immer mit Werturteilen verknüpft. Und Werte differieren. Wissenschaftler sind Menschen und Menschen haben unterschiedliche Ansichten und das bleibt ihnen, auch wenn sie Wissenschaftler sind. Für manche ist das Retten von Menschenleben das Wichtigste, manche sagen, sie legen den Fokus auf die persönliche Freiheit. Die einen sagen, jedes Leben muss gerettet werden, egal, was das die Wirtschaft und meine persönlichen Freiheiten kostet, andere sagen, man muss Tote in Kauf nehmen, um einen Staat nicht in seiner Gesamtheit abzuwürgen. Ob etwa ein nationaler Lockdown dazu geeignet ist, die Kurve abflachen zu lassen, kann unterschiedlich beantwortet werden, etwa je nachdem, wie der Zeithorizont bedacht wird. Es kann bei der ersten Welle helfen, die zweite aber verschlimmern. Oder es tut das nicht.

Und trotzdem: Das Vertrauen in die Wissenschaft wächst

Das Ansehen der Wissenschaftler in der Öffentlichkeit jedenfalls ändert sich. Das Wissenschaftsbarometer Corona Spezial der deutschen Robert Bosch Stiftung hat das Vertrauen der Bevölkerung in Wissenschaftler gemessen – und eine hohe Wertschätzung herausgelesen. So wollen 81 Prozent der Deutschen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in die Politik einfließen – mehr, als das in den Vorjahren der Fall war. Gemischt wird allerdings darauf reagiert, ob sich Wissenschaftler dann auch in die abgeleiteten politischen Entscheidungen einmischen sollen. Wissenschaftler sind keine demokratisch gewählten Vertreter des Volkes, sagt Professor Julian Reiss und warnt vor einer Entwicklung zur Technokratie. Entscheidungen in einer solchen Bandbreite zu treffen, wie es derzeit von der Politik gefordert wird, könne nur jemand machen, der demokratisch legitimiert ist und zur Verantwortung gezogen werden kann. Wissenschaft kann irren – umso wahrscheinlicher, je weniger Zeit ihr bleibt. Nur kann ein Wissenschaftler im Gegensatz zu einem Politiker nicht abgewählt werden.

Nun werden die Ableitungen, Resultate und Verordnungen der ersten Phase des Lockdowns interdisziplinär aufgearbeitet, und zwar auch aus juristischer, sozialwissenschaftlicher, ökonomischer und medienwissenschaftlicher Sicht. Die schrittweise Öffnung der Öffentlichkeit bringt auch eine schrittweise Normalisierung der Wissenschaft, die zur peer review zurückkehrt, Ergebnisse weiterentwickelt und Daten restlos aufarbeitet. Wie gesagt: Es gibt kein Problem, das die Wissenschaft nicht wird lösen können. Sie braucht nur etwas Zeit.  

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