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Koste es, was es wolle

... zahle es, wer mag. Politische Entscheidungen in Zeiten der Corona-Krise. In der Auseinandersetzung mit den Folgen werden uns Masken nur bedingt helfen.

Von Christian Nusser

Ehe Sebastian Kurz zu den Toten sprach, suchte er Kontakt zu Lebenden, also rief er mich an. Daran ist nichts Spektakuläres, Kanzler aller Zeiten, Parteifarben und Temperamente melden sich in Redaktionen, egal, ob sie nun Faymann, Schüssel oder Kreisky hießen. Lob ist rar, zuweilen erkundigen sich die Anrufer nach der Meinung von Journalisten zu bestimmten Themen, ich hege Zweifel daran, dass die Antworten einen relevanten Einfluss auf das Tagesgeschehen haben. Viel lieber beschweren sich Politiker über die Berichterstattung, beklagen falsche Schwerpunktsetzung, sehen die Tragweite ihre Entscheidungen nicht angemessen wiedergegeben, halten Journalisten für irregeleitet. Der Hintergedanke: Wenn schon die heutige Nachrichtenvermittlung in die falsche Richtung abgebogen zu sein scheint, dann sollte wenigstens die morgige in korrekte Bahnen gelenkt werden. Ich sehe das – ohne Amtsanmaßung – mit bundespräsidialer Gelassenheit. Solange nicht unanständig Druck ausgeübt wird, vor allem nicht indirekt über Vorgesetzte, Geschäftsführung, Eigentümer, ist mir jede Meinungsäußerung willkommen. Also fast jede.

Alles nach Drehbuch

Sebastian Kurz wartet in sensiblen Phasen nicht auf die Schlagzeilen des nächsten Tages, er versucht sie aktiv mitzugestalten, als freier Mitarbeiter quasi, von Amts wegen gestellt, ohne vorher an den Sitzungstisch gebeten worden zu sein, aber immerhin nimmt er kein Geld für seinen Nebenjob. Er ruft an, weil er Berichten vorab einen türkisen Farbton aufpinseln will, er macht das mit der Eleganz eines Elmayer-Schülers, der Höflichkeit eines Oberkellners und der Empathie eines Erstgeborenen, der seiner Mama zum Muttertag gratulieren möchte. „Der Kanzler hat schließlich – Stand Mitte März 2020 – immerhin 6127 Nummern in seinem iPhone eingespeichert“, schreibt Klaus Knittelfelder in seinem Buch „Inside Türkis“. Es sind solche Details aus dem Alltag, die das Bild eines Kanzlers prägen sollen, der sich rastlos für sein Land, für Österreich aufopfert, die Fotos zur Show stellen die hauseigenen Fotografen aus dem Kanzleramt dankenswerterweise kostenlos bei. Kurz am Handy, Kurz gestikulierend am Tisch der Mächtigen der Welt, Kurz im Flieger, am Autorücksitz, auf der Straße unter Menschen, überall im Mittelpunkt. Entscheidungen in dieser Regierung fallen nicht einfach so, das soll vermittelt werden, sondern nach sorgsamem Abwägen, nach viel Hineinhören in die Bevölkerung und in die Meinungsbildner, nach einem klug erstellten Konzept. Dieses Konzept existiert tatsächlich immer, zumindest für jenen Teil, der sich mit der Präsentation beschäftigt. Dafür gibt es ein Drehbuch für alle Mediengattungen, es wird erstellt, noch ehe aus dem Kanzleramt der erste Piepston entwichen ist. Rollen werden verteilt, Textbausteine gebastelt, der Ablauf in Form gegossen. Der Weg von der Problemerkenntnis bis zur Entscheidung wird inszeniert wie eine Instagram-Story. Jeder Zufall will schließlich gut geplant sein.

„Zeitungsmeldungen sind die erste Rohfassung der Geschichte“, sagt Meryl Streep im Film „Die Verlegerin“ gegen Ende hin. Sie spielt Katharine Graham, legendäre Herausgeberin der „Washington Post“ in der Nixon-Ära. Kurz weiß: Wer sich nicht um diese „erste Rohfassung“ kümmert, kommt häufig auch in der Endversion nicht vor oder hat dort einen Auftritt, der viele Wünsche offenlässt, vor allem die eigenen. Der aktuelle Kanzler lässt ungern Wünsche offen, schon gar nicht solche an sich selber, er ist angetreten, um Geschichte zu schreiben, das ist unverkennbar, es soll keine Kurzgeschichte sein, aber irgendwie doch.

Der Babyelefant ist angeschossen

An diesem 30. März 2020 wirkte der Kanzler erstaunt oder gab sich erstaunt, so genau lässt sich das oft nicht auseinanderhalten. Politik und Schauspielerei sind artverwandte Berufe, es geht in beiden mehr um den Anschein als um das Sein, weniger um Wahrheit als um die Glaubwürdigkeit einer Darstellung, um starke, nachhaltige Bilder, um Verknappung eines Stoffes auf das Wesentliche. Der Kanzler saß mutmaßlich im Auto, zumindest deuteten die Hintergrundgeräusche darauf hin. Er habe gerade mit Freunden telefoniert, sagte der erstaunte oder sich erstaunt gebende Regierungschef und die wären davon ausgegangen, dass er heute die Corona-Beschränkungen aufheben oder abmildern werde, die zu diesem Zeitpunkt seit nicht ganz drei Wochen in Österreich galten. Er denke aber nicht daran, das zu tun, im Gegenteil, beschied er mir. Wenig später poppte eine APA-Alarmmeldung auf den Redaktionsmonitoren auf, es war 9.44 Uhr, ein Montag. „Deutlich strengere Maßnahmen notwendig“, lautete der Titel der Botschaft. Unmittelbar danach gab Kurz gemeinsam mit dem Vizekanzler, dem Gesundheitsminister und dem Innenminister, dem von mir so getauften „virologischen Quartett“ also, eine der überschaubar unüberschaubar vielen Pressekonferenzen, alle wirkten sehr ernst, sehr angespannt, sehr staatstragend. Der Kanzler trug einen dunkelblauen, eng geschnittenen Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte in dezentem Türkis, seine Corona-Kampfmontur für Wochen, das ewig Gleiche sollte etwas Gelassenheit vermitteln hinein in die stetige Aufgeregtheit dieser Stunden. „Die Wahrheit ist, es ist die Ruhe vor dem Sturm“, sagte Kurz. Am Abend stufte er den Sturm zu einem Orkan hoch, als Abwehr legte der Kanzler im ORF noch ein paar Ziegelreihen drauf beim Bau seines Horrorhauses: „Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist.“ 1,3 Millionen schauten sich die ZiB-Sondersendung an, so viele wie sonst die Kitzbühel-Abfahrt oder den Opernball, es schauderte alle. An diesem 30. März kündigte Kurz die Maskenpflicht für Supermärkte an, das Virus bekam seine Symbolik buchstäblich vor die Nase gesetzt. Zu dem Zeitpunkt hatten die Schulen bereits geschlossen, die Gastronomie ebenfalls, es gab Ausgangsbeschränkungen, das Betreten der Bundesgärten durfte als lebensgefährlich erachtet werden, selbst private Zusammenkünfte waren öffentlich untersagt. Es gab nur mehr drei (oder doch vier?) Gründe, die Wohnung zu verlassen, also es lagen schon mehr Gründe vor, aber sie galten als nicht statthaft, Zweifel daran flexte der Innenminister mit soldatischer Strenge weg. Wenig davon hielt später der Prüfung durch Höchstgerichte stand, aber als die Urteile gefällt wurden, war das meiste schon aufgehoben, das nie gegolten hatte, dessen Nichtbefolgung die Polizei aber trotzdem mit harten Strafen ahndete. Der Babyelefant sei schwer angeschossen, urteilte auch JKU-Verfassungsrechtler Andreas Janko nach der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zu den Covid-19-Verordnungen.

Wer kommt zuerst?

Masken? Wir waren das nicht gewohnt. Wenn wir im Straßenbild asiatischer Touristen ansichtig wurden, dann witzelten wir über deren Übervorsichtelei. Die gute österreichische Luft soll gefährlich sein? Was für blanker Unsinn, fast eine Beleidigung! Nun sollten wir selber Mund und Nase bedecken, aber nicht um uns selber zu schützen, sondern die anderen, denn nicht uns nützen die Masken, sondern jenen, denen wir begegnen. Plötzlich also trugen wir nicht die Verantwortung allein für uns, sondern für alle, ein Zustand, den wir nicht mehr gut kannten. Kurz und die Toten, er hätte seinen Satz auch anders formulieren können. „Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist und SIE werden schuld daran sein, SIE ganz allein, wenn Sie sich nicht an die Regeln halten, die wir verordnen, Kruzifixnocheinmal.“ Er hätte dann böse in die Kamera schauen können, mit dem Finger auf uns zeigen, die Augen funkeln lassen, sogar die Haare – pure Aggression. Dazu kam es nicht, aber die vielen Ich-AGs im Land sahen sich mit einem Mal mit einer neuen, seltsam ältlich wirkenden Gesellschaftsform konfrontiert. Wir waren in unseren Entscheidungen nicht mehr allein für uns selber verantwortlich, sondern zusätzlich auch für andere, für das Gemeinwohl, was immer darunter auch zu verstehen sein sollte, was für eine Bürde.

Über Jahre und Jahrzehnte waren wir dazu erzogen und ausgebildet, getrimmt und ermutigt worden, vor allem unseren eigenen Vorteil im Blickfeld zu haben, das Beste aus allen Welten für uns zu reklamieren, sogar die SPÖ warb 2017 mit dem Slogan „Hol Dir, was Dir zusteht“, und mit einem Mal sollten wir das hintanstellen und uns Gedanken machen über die Welt um uns herum und die Erde im großen Ganzen. Seltsame Zeiten! Seltsame Zeiten auch, weil wir plötzlich merkten: Hoppla, Entscheidungen haben Konsequenzen, für uns und für andere. Das ahnten wir natürlich schon, noch ehe die Masken die Kontrolle über unser Leben übernahmen, aber uns gefiel die Zeit besser, als wir noch verdrängen konnten und lieber andere die Zeche für unser Handeln zahlen ließen. Als Schlawiner sind wir Weltmeister, leider hat Corona das noch nicht richtig verstanden, Viren gehören doch eher zu den einfachen Leuten, da darf man nicht zu viel voraussetzen. Natürlich war uns immer klar, unter welchen Bedingungen unsere billige Kleidung hergestellt wird und wer die Folgen dafür trägt. Dass Rauchen ungesund ist und Paragleiten gefährlich, aber wenn es schiefgeht, steht die Gemeinschaft dafür gerade. Dass wir Müll produzieren, der anderswo vergraben wird oder als Plastik im Meer fortschwimmt, und dass wir allerlei Schadstoffe ausstoßen, die weit von uns entfernt weggeatmet werden müssen. „Neben uns die Sintflut“, nannte der deutsche Soziologe Stephan Lessenich 2016 treffend ein Buch zum Thema. Unsere Autos werden immer wuchtiger, unsere Lust auf Flugreisen immer unbändiger, unser Appetit auf Nahrungsmittel aus aller Welt immer ungestillter, unser Bedarf an Gütern aus allen Ecken immer ungezügelter. Wir verbauen unsere Wiesen und Felder, holzen ab, was im Weg steht, giftspritzen unsere Äcker zu neuen Höchstleistungen, pressen Kühe aus wie Granatäpfel, schreddern Küken, weil sie wirtschaftlich wertlos sind. Wir haben Abhängigkeiten in die ganze Welt hinaus und die ganze Welt hat Abhängigkeiten ganz tief in uns hinein. Na und? Die Welt soll das einfach sportlich nehmen.

Die Globalisierung hat schließlich auch ihre guten Seiten. Weniger Armut, weniger Hunger weltweit, wir können herumreisen, uns fremde Kulturen anschauen, vieles wurde billiger, alles ist zu haben. Als ich in den achziger Jahren das erste Mal nach New York flog, gab mir ein Freund eine lange Liste für Langspielplatten mit, die es nur in den USA zu kaufen gab. Heute trommeln wir nervös mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte, wenn eine Bestellung nicht rascher als innerhalb von 24 Stunden ins Haus geliefert wird. Filme starten in den Kinos weltweit gleichzeitig, wir streamen Musik und Serien, teilen Insta-Fotos eines Influencers auf Trinidad, staunen über Verschwörungstheorien aus der Wüste von Nevada, schlürfen Cola und tippen am iPhone besorgte Zeilen über das Weltklima auf unsere Facebookseite.

Und wer zahlt?

Das kostet was? Ach! „There’s No such Thing as a Free Lunch“, popularisierte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman 1975 schon länger geflügelte Worte. Das stimmt, stimmt aber wiederum auch nicht. Natürlich hat alles seinen Preis, irgendwer zahlt schon, im besten Fall ist man das nicht selber. Es mag für den Chefredakteur einer Gratiszeitung einigermaßen kokett erscheinen, über die Gratiskultur und ihre Folgen zu philosophieren, schließlich verlangen wir für die Zeitung kein Geld, sondern finanzieren uns ausschließlich über Anzeigen. Andererseits: Ein ganzseitiges Inserat in der „Kronen Zeitung“ am Sonntag kostet bis zu 54.951,85 Euro, ein Exemplar der Ausgabe 1,30 Euro. Es müssten also über 42.000 Menschen eine Zeitung kaufen, um gleich viel Geld wie eine einzige (!) Anzeigenseite in die Kasse zu spülen. Für die meisten Medien ist der Verkaufserlös folglich ein nettes Zubrot, tatsächlich wirtschaftlich abhängig sind sie von Anzeigen. Es sitzen mehr mit uns beim Lunch, als die meisten vielleicht glauben. Kann man sich dem entziehen, also für alles selber bezahlen, was man so anrichtet oder besser gleich Verzicht üben? Natürlich, man kann auch allein von Luft und Liebe leben, theoretisch jedenfalls. Tun wir das? Nein! Wir bekommen die Krise, wenn im Auto der Intervallschalter für den Scheibenwischer ausfällt oder wenn im Supermarkt die Tubenmayonnaise vergriffen ist, und da sollen wir zur Askese taugen? Wir waren nicht einmal dazu in der Lage, auf den Sommerurlaub 2020 zu verzichten, um Corona in die Schranken zu weisen. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn wir daheimgeblieben wären, aber die Meere und die Seen und die Berge lockten halt so teuflisch und wir sind halt auch nur Menschen, Gott sei Dank und leider. Wird uns Corona zu besseren Menschen machen? Zu anderen vermutlich schon, aber zu besseren? Da habe ich meine Zweifel. „Koste es, was es wolle.“ Der Kanzler sagte diesen Satz, der Vizekanzler, der Finanzminister, vielleicht bleiben diese fünf Worte bei uns, wenn das Virus längst weitergezogen ist, als Erinnerung daran, was passiert ist in diesen Krisentagen. „Koste es, was es wolle.“ Eigentümlich gönnerhaft klingt das, so als wäre nicht von unserem eigenen Geld die Rede, das da verteilt wird. Werner Kogler ist der Schlachtruf des virologischen Quartetts heute zu Recht peinlich. „Koste es, was es wolle“, rief die Regierung. „Was wolle es denn kosten?“, fragte das Volk. „Was auch immer“, antwortete die Regierung und sie klang etwas verschnupft, weil sich das Volk undankbar zu zeigen begann. „Und wer bezahlt das, was es kosten wolle?“, fragten die nun tatsächlich Undankbaren. „Na ihr, wer sonst, ihr Tölpel?“, erwiderte die Regierung und zog ab auf ihren Plexiglaspferden. Das Volk blieb zurück und begann zu sparen.