Zur JKU Startseite
Kepler Tribune
Was ist das?

Institute, Schools und andere Einrichtungen oder Angebote haben einen Webauftritt mit eigenen Inhalten und Menüs.

Um die Navigation zu erleichtern, ist hier erkennbar, wo man sich gerade befindet.

Meine Blase, deine Blase

Was ist wichtiger? Die persönliche Freiheit des Einzelnen oder doch das Zusammenleben einer funktionierenden Gesellschaft? Die Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung haben diese zentrale Frage eines modernen Staates wieder einmal ins Zentrum gerückt. Jede Antwort darauf sorgt aber für neue Probleme. Verdammt. Ein Essay von Cathrin Kahlweit.

Von Cathrin Kahlweit

(C) Mark Glassner

Als der Schweizer Mathis Wackernagel und der Kanadier William Rees 1994 den Begriff „Ökologischer Fußabdruck“ erfanden, machten sie einen denkbar schlechten Job. Damals konnten sie das allerdings noch nicht ahnen. Ihnen ging es um den Menschen und die Zerstörung der Welt, um das Verhältnis des individuellen Verbrauchs zur globalen Biokapazität – ein wichtiges Thema. Die beiden Wissenschaftler wollten mit ihrem wegweisenden Konzept vor allem das sogenannte Nachhaltigkeitsdefizit aufzeigen, oder, einfacher gesagt, sie wollten zeigen, dass die Menschen viel mehr verbrauchen, als die Natur nachzuliefern in der Lage ist. Eine Katastrophe, wenn man das zu Ende denkt, aber vor 25 Jahren dürften Wackernagel und Rees noch an eine ökologische Umkehr aus Vernunftgründen geglaubt haben. Marketingtechnisch war ihr Claim damals klug. Aus heutiger Sicht ist er dramatisch unterverkauft.

Denn „ökologischer Fußabdruck“ klingt erdverbunden, naturnah, fast poetisch. So wie auch „Klimawandel“ – eine Formulierung, die angesichts der globalen klimatischen Entwicklung nur langsam, zu langsam von „Klimakatastrophe“ abgelöst wird. Tatsächlich aber bedarf es größerer rhetorischer Kaliber und robusterer Methoden, um die Dramatik steigender Temperaturen, aussterbender Arten, höherer Meeresspiegel, drohenden Wassermangels und zunehmender Verteilungskämpfe in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und damit, letztlich, einen Wandel von Verhaltensweisen zu erzwingen. Es braucht mehr als den ökologischen Fußabdruck oder einen „Weltüberlastungstag“, der den Moment definiert, an dem die Erde ihre natürlichen Ressourcen – auf das ganze Jahr gerechnet – aufgebraucht hat, um Menschen klarzumachen, dass Mülltrennung und eine Jahreskarte für öffentliche Verkehrsmittel nicht reichen. Auch Wackernagel und Rees fordern in ihren Büchern zunehmend drastische „Zukunftsfähigkeitsstrategien“. Denn sie wissen mittlerweile: Appelle allein reichen nicht.

Die Optimierung des persönlichen Glücks

Die Frage, ob Eigenverantwortung in kollektiv durchlittenen Krisen ausreicht, um nicht nur ein neues Werteverständnis, sondern auch neue Handlungsmaximen zu erwirken, beschäftigt immer mehr Forscher*innen und Politiker*innen. Denn die Corona-Pandemie ebenso wie die Klimakatastrophe scheinen die schiere Unmöglichkeit aufzuzeigen, individuelle Verantwortung zum Schutz des Gemeinwohls zusammenzuführen. Fast jede*r Europäer*in will, wenn dazu befragt, das Klima retten, aber dennoch nicht gleich auf den Urlaub wahlweise auf Mallorca oder in Bangkok verzichten. Auch in Umfragen zu Maßnahmen gegen Covid-19 ist eine Mehrheit der Befragten gern bereit, sich staatlichen Maßnahmen zu unterwerfen, vielfach wird sogar ein radikaleres Durchgreifen eines stärkeren Staates gefordert, um die Pandemie endlich zu beenden.

Aber die vielen kleinen Fluchten, das Übertreten der Regeln, als Geschäftsleute getarnte Tourist*innen, als private Clubs getarnte Restaurants, als Businessmeetings getarnte Abendessen, als Verwandtschaftsbesuche getarnte Städtereisen, als Skikurse getarnte Partyzonen zeigen: Die Optimierung des persönlichen Glücks wird von den meisten, allen rhetorischen Zugeständnissen und aller politischen Einsicht zum Trotz, über das allgemeine Wohl gestellt. Es soll nur besser lieber niemand merken. Dabei ist die – wohlgemerkt theoretische – Bereitschaft, für den Allgemeinnutzen auf eigene Privilegien zu verzichten, in der Corona- Pandemie sogar noch ungleich höher als beim Umweltschutz, weil Fehlverhalten oder Ignoranz viel unmittelbarer im eigenen Umfeld und im eigenen Leben spürbar werden können.

Zwar kennt bis heute, anders als von Kanzler Sebastian Kurz im vergangenen Frühjahr prognostiziert, immer noch nicht jeder „jemanden, der an Corona gestorben ist“, aber die schiere Zahl der Infizierten, der Mutanten, der ökonomisch Betroffenen zeigt, dass Covid-19 sehr real ist. Die Einschränkungen im Klimaschutz werden gern in die Zukunft geschoben, weil die Klimakatastrophe immer noch als Zukunftsthema behandelt wird. Debatten darüber, was geschehen muss, um eine Erderwärmung um zwei Grad zu verhindern, suggerieren, dass noch Zeit sei. Der große Verzicht, die große Umkehr kann warten.

In der Corona-Krise wiederum werden – von einer Mehrheit – unmittelbare Einschränkungen im Großen durchaus befürwortet, aber dann mit Blick auf das eigene Leben, die eigenen Bedürfnisse zumindest im Kleinen immer wieder negiert. Individualismus sei die „Vertretung eigener Interessen ohne Rücksicht auf die Gesellschaft“, sagt der große deutsche Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel und stellt fest, dass sich „Individuen in ihren Interessen behindert fühlen, wenn sie die Folgen ihres Handelns selbst tragen sollen“. Die Verantwortung für – pathetisch gesagt – die Rettung der Welt vor dem Untergang oder auch nur des alten Nachbarn, mit dem man ohne Maske im Aufzug fährt, wird erst bejaht, dann delegiert. Jean-Jacques Rousseau gilt als Philosoph des aufgeklärten Bürgertums. In seiner idealen Welt sollte jedes Individuum seine eigenen Interessen dem Gemeinwillen der Bürger unterordnen; mit einem Gesellschaftsvertrag sollten Egoismus und Eigennutz durch das Allgemeinwohl ersetzt werden. Schon damals war das ein schöner, ein guter Traum. Zweihundert Jahre später gibt es immer noch zwei widerstreitende Lager, aber: Vorsichtige Optimisten auf der einen Seite und Realisten auf der anderen haben die Idealisten abgelöst.

Aktivem Widerstand gewichen

Dass etwas in Bewegung gekommen sei, kann man in vielen feurigen, ja, euphorischen Aufsätzen und Thesenpapieren lesen, die – ermutigt auch durch die große Corona-Kraftanstrengung – das Ende des Individualismus als gesellschaftliches Leitmotiv ausrufen und predigen, komplexe Missstände würden wieder verstärkt als das wahrgenommen, was sie sind: nämlich eine gesellschaftliche, also kollektive Verantwortung. Die beiden britischen Ökonomen John Kay und Paul Collier etwa vertreten diese These in ihrem neuen Buch „Greed is dead“: Die allgemeine Einsicht wachse, schreiben sie, dass persönliches Wohlverhalten nicht ausreiche – egal, wie sehr man sich als Einzelner bemühe und dabei auch noch diejenigen mitschleppe, die sich eben oder nur so lange bemühen, wie sie nicht aus ihrer Komfortzone herausmüssen. Es gebe „mittlerweile reichlich Hinweise“, zitiert der Spiegel die zwei Autoren, dass mit „individuellem Streben allein keine Klimakrisen zu stoppen sind“. Oder die Armut zu beseitigen oder der Finanzmarkt zu reformieren oder die Pandemie zu stoppen ist.

Immer mehr Expert*innen, Klimaforscher* innen, Ökonom*innen und Politikwissenschaftler*innen glauben, wie Kay und Collier, deshalb an eine „große Transformation“, eine industrielle Revolution, flankiert von einem Gesellschaftsvertrag, der auch zwischen den Generationen gelten soll. Technologisch, ökonomisch und gesellschaftlich, glauben diese Optimist*innen, sind jetzt die Bedingungen für den Umbruch da, die so lange fehlten. Der Widerstand dagegen schwinde, heißt es, die Vernunft nehme zu, Wirtschaft und Finanzwelt zögen mit, per Mitsprache und Einspruchsrechten könne man nun auch die Zivilgesellschaft mitnehmen.

Nicht zuletzt deshalb verweist auch die Soziologin Brigitte Aulenbacher, die an der Johannes Kepler Universität in Linz gesellschaftstheoretisch forscht, auf die wachsende Zahl so besorgter wie kämpferischer Akteur*innen: Zivilgesellschaftliche Proteste – seien es von Fridays for Future oder Black Lives Matter – zeigten, dass die stillschweigende Akzeptanz für den Raubbau an der Natur oder soziale Ungleichheit nicht nur aufgebrochen, sondern aktivem Widerstand gewichen sei.

Ein wundervolles Szenario. Aber die Pandemie zeigt eben auch das andere Extrem. Der Soziologe Ferdinand Tönnies nennt es den Vormarsch des „wehleidigen Egoisten“. Die Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft sind für ihn Gegensatzpaare. Menschen, sagt er, seien vorwiegend an ihren eigenen Vorteilen und am Konsum orientiert, weshalb sie alle möglichen Wege suchten, um sich für ihre Verantwortungslosigkeit zu rechtfertigen. Das ist, zugegeben, eine harsche Analyse, und all jene, die Kompensationszahlungen für Flugkilometer leisten, ihre Wintermäntel im Kleiderkreisel besorgen und ihre Nahrungsmittel in Unverpackt-Läden kaufen, werden nun ebenso laut aufschreien wie all jene, die in der Flüchtlingskrise Herzen, Geldbeutel und Wohnungen für Asylbewerber* innen geöffnet haben oder im zweiten, dritten, vierten Lockdown ihre Kinder aus Verantwortungsbewusstsein nicht in die Schulbetreuung schicken und ihre alten Eltern seit Monaten nur per Zoom gesehen haben.

Letztlich aber haben ohnehin beide Seiten, egal, ob sie die neue Einsicht oder die alte Egozentrik beschwören, in letzter Konsequenz recht: Die Anstrengung, die auf freiwilliges Engagement und guten Willen, auf Eigenverantwortung und Einsicht setzt, reicht nicht. Sie reicht nie, selbst wenn das Engagement einer wachsenden Minderheit groß und gut gemeint ist. Und zumal dann nicht wenn zu allem Überfluss Corona-Leugner* innen mit selbstgerechter Attitüde und unverhohlener Aggression durch die Straßen ziehen, Rechtsradikale ermutigen, Fremde gefährden, Cluster produzieren – und sich zum Schluss natürlich auf Kosten der Allgemeinheit im Krankenhaus auf der Intensivstation behandeln lassen.

Wie also soll es gehen? Der deutsche Grünen-Politiker Robert Habeck und der deutsche Publizist Rainer Hank fechten, ohne aufeinander Bezug zu nehmen, darüber gerade einen Strauß mit zwei neuen Büchern aus. Habeck denkt in „Von hier an anders“ darüber nach, wie es gelingt, „mutig fortschrittliche Politik zu machen, ohne zu ignorieren, dass gerade der Fortschritt und der Mut zur Veränderung Menschen verprellt, abstößt, aufbegehren lässt“. Er nennt es „das Grundproblem, dass der Fortschritt der einen fast immer einen Rückschritt für andere bedingt, dass Globalisierungsgewinner immer auf Kosten anderer gut leben“. Viele Menschen fürchteten Veränderung, weil sie glaubten, einen zu hohen Preis dafür zahlen zu müssen. Verzichten zu müssen, sich einschränken zu müssen. Freiheitsrechte abgeben zu müssen. Habeck betont dennoch und umso mehr, dass die Verwerfungen der pluralisierten Gesellschaft sich nicht nur mit ökonomisch-sozialen Ansätzen heilen lassen, sondern auch mit normativ-kulturellen.

Er will „Solidarität miteinander. Verzicht auf Ideologie“. Und auch er sagt: Appelle reichen nicht. „Gerade progressive Kräfte müssen Macht wollen, Macht auch können ... Sie müssen es besser machen wollen, anstatt sich in vornehmer Abstinenz von der Macht fernzuhalten.“ Sein Credo: „Durch machtvolle Ausübung des politischen Mandats kommt auch Vertrauen zurück.“ Starke Worte und in letzter Konsequenz das Votum für einen in Krisenzeiten immer demokratischen, aber eben auch interventionistischen Staat.

Rainer Hank ist ein bekannter Frankfurter Wirtschaftsjournalist. Seine Monografie „Die Loyalitätsfalle“ stößt in ein anderes Horn. Er findet, Loyalität, die man auch mit Gemeinsinn oder gesellschaftliche Verantwortung übersetzen könnte, habe zu Unrecht einen guten Ruf. Sie sei ein Antipode für Wettbewerb und Meritokratie. „Be disloyal“, sei illoyal, laute, so Hank, der kategorische Imperativ, den Graham Greene als ethischen Grundsatz gepriesen habe.

„Greene gab Anweisungen für den Dissidenten, wie er der Klüngelei, der Anpassung, der intellektuellen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Blockade entkommen könne.“ Hank schließt sich an. Man solle unbequem sein, wo andere es sich bequem machten. Was im Umkehrschluss bedeutet: Sei bequem, wo es sich andere unbequem machen. Der neoliberale Publizist formuliert damit eine pragmatische, argumentative Grundlage für das, was eine wachsende Minderheit in der Pandemie als „Corona-Diktatur“ bezeichnet. Letztlich legitimiert Hank damit Egoismus und Ignoranz, aber seine Position ist durchaus populär.

Lob für die Solidarischen

Und sie ist unerträglich. Denn wenn Solidarität das gemeinsame Einstehen für geteilte Interessen ist, wie es Wolfgang Janisch in der Süddeutschen Zeitung schreibt, also die wechselseitige Unterstützung, um zum Beispiel gut und gesund aus der Pandemie zu kommen, dann braucht es dreierlei: Ermutigung und Lob für die Solidarischen, positive Anreize und Erleichterungen für die Zögerlichen und auch harte Vorgaben, staatliche Eingriffe und rigide Kontrollen.

„Durch machtvolle Ausübung des politischen Mandats kommt auch Vertrauen zurück“, hatte Habeck gesagt, und das sei hier bewusst ein zweites Mal zitiert, weil es erstaunlich genug ist, das von einem Grünen zu hören, dessen Partei in dem Dilemma lebt, dirigistische Eingriffe des Staates zum Nutzen von Mensch und Natur durchaus zu befürworten, aber auf keinen Fall als „Verbotspartei“ gelten zu wollen. In diese Richtung geht unter anderem das Konzept eines kurzen, aber extrem rigiden Lockdowns (Stichwort Zero Covid), gefolgt von Privilegien für Getestete und Geimpfte. Wissenschaftler*innen und Politiker*innen, die das Konzept eines „solidarischen Shutdowns“ entwickelt haben, argumentieren damit, dass die Pandemie mit dem aktuellen Maßnahmenmix eher verlängert statt beendet werde. Mit Impfungen allein sei der Wettlauf gegen die mutierte Virusvariante nicht zu gewinnen – erst recht nicht, wenn die Pandemiebekämpfung aus „aktionistischen Einschränkungen der Freizeit ohne kompletten Shutdown der Wirtschaft“ bestehe. „Wir setzen uns dafür ein“, heißt es in dem Aufruf, dass „die Sars-CoV-2-Infektionen sofort so weit verringert werden, dass jede einzelne Ansteckung wieder nachvollziehbar ist. Das entschlossene Handeln etlicher Länder hat gezeigt, dass es möglich ist, die Verbreitung des Virus zu beenden.“

Demokratiepolitisch sei eine solch radikale Maßnahme vertretbar, heißt es, denn: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat.“

Für die aktuelle Krise ist das wohl zu spät. Die Bereitschaft, sich radikalen Maßnahmen zu unterwerfen, die ein handlungsfähiger Staat seinen Bürger*innen in Form von scharf sanktionierten Rechten und ungewohnt harten Pflichten auferlegt, ist im Laufe des vergangenen Jahres zunehmend gesunken, der Glaube an wirksame Lösungsansätze umgekehrt proportional gestiegen. Die Probleme mit der Impfstoffbeschaffung haben dazu massiv beigetragen; aber es gibt eine zweite, aktuelle Debatte, und die Stimmen ihrer Befürworter*innen werden lauter. Radikale Ansätze wie die Umstellung der Ökonomie auf eine „Pandemiewirtschaft“ mit Exportbeschränkungen, Zwangslizenzierungen und dem Aufbau staatlicher Produktionsstätten für Vakzine werden angedacht. Noch sind die meisten europäischen Regierungen dazu nicht bereit, aber es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass das, was Robert Pausch in der Zeit als „Perpetuum mobile der Pandemie“ bezeichnet, nicht zu stoppen ist, wenn der Staat nicht massiv eingreift. Nötig ist eine weltweite Impfkampagne, die Stützung unterfinanzierter Gesundheitssysteme in anderen Ländern, die Ausweitung der Produktion von Impfstoffen, vielleicht sogar die Freigabe von Patenten.

Behäbig und ideologievergessen werde die Debatte stattdessen geführt, argumentiert Pausch; die Politik fürchte sich vor dem Eindruck, sie versteige sich zu einer „Planwirtschaft“, dabei seien alle Maßnahmen, die derzeit zur Rettung der Wirtschaft ergriffen würden, doch bereits Ausnahmezustand pur. Und nicht nur das. Gerade das Herumlaborieren mit unterschiedlichen, teils in ihrer Wirkung diametral entgegengesetzten Maßnahmen führt derzeit zu einer fortschreitenden Entsolidarisierung der Gesellschaft – nicht nur wegen der immer drastischer werdenden Regelbrüche Einzelner, die zu einem Wettlauf um besonders fantasievolle Um- und Auswege aus den Corona-Einschränkungen zu werden scheinen. Vor allem, und das ist weit dramatischer, werden die sozial Schwachen, die Alleinerziehenden, die Kranken, die Alten, die Jugendlichen, die Kleinunternehmer*innen, die Künstler*innen auf der Strecke gelassen, die sich entweder keinen Zweitwohnsitz in St. Anton oder auch nur eine Datscha im Mühlviertel, keine Nachhilfelehrer, keinen Laptop, keine große Wohnung leisten können, die keine Rücklagen haben, die eine chronische Erkrankung haben, einen Psychotherapeuten brauchen, die von Gewalt, Isolation, Enge oder Armut bedroht sind.

Die Verschärfung sozialer Spaltungen oder der drohende soziale Abstieg von Teilen der Bevölkerung wirken zudem, wie Brigitte Aulenbacher, die JKU Soziologie-Professorin und Expertin für Fragen sozialer Ungleichheiten und gesellschaftlichen Wandels, weiß, auch auf nachfolgende Generationen nach, weil sich Armut und Ungleichheit vererben. Zudem würden soziale Spaltungen, wie die Ära Trump gezeigt habe, von Populisten genützt. Diese schürten die Ängste der Menschen, ihren Unmut, ihre Wut, um sie für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren.

Das aber, warnt Aulenbacher, „geht einem demokratischen Gemeinwesen an die Substanz“. Die aktuelle Debatte über die Mittel und Wege aus der Pandemie wird, ungeachtet aller finanziellen Ausgleichs- und Ersatzleistungen des Staates, von einer gut ausgebildeten, gut abgesicherten Elite über die Köpfe jenes Teils der Gesellschaft hinweg geführt, der langfristig den höchsten Preis zahlt. Das gilt, in die nahe Zukunft gedacht, auch für alle jene, die in einer globalisierten Welt leben müssen, in der kurzfristige ökonomische wie nationale Interessen immer noch über einen generationenübergreifenden und nachhaltigen Umgang mit Ressourcen siegen.

Um einer fortschreitenden Desillusionierung der Jugend und einer Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu begegnen, braucht es keinen „autoritären Staat“, der Grund und Freiheitsrechte außer Kraft setzt. Aber ein verantwortungsbewusster, demokratischer Staat kann und muss klar, offensiv und der Dramatik der Krise entsprechend kommunizieren, er muss selbstbewusst und proaktiv agieren. Das gilt für die Covid-Pandemie, aber umso mehr für die Klimakatastrophe. Beide bedrohen ein Grundrecht: das Recht auf Leben.