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Von Hilfe und Sekunden

Als Exilmusikforscherin bin ich mit Fluchtbiographien der Vergangenheit vertraut und kenne die persönlichsten Dokumente von Menschen, die dem Naziterror entkamen. Es erschlossen sich mir deren Empfindungen im erzwungenen Verlassen der Heimat, im Verlust von Familie und Freunden, im brüchigen Zustand auf den Exilwegen und im oft sinnentleerten Verharren in den Zufluchtsländern. Meist sind dies Briefe – und diese sprechen Bände. Unweigerlich zog ich in den letzten Jahren Vergleiche von der damaligen Situation weiträumiger Fluchtbewegungen zur aktuellen. Beschreibungen von Asylsuchenden in Österreich, die ich in den vergangenen Jahren kennenlernen durfte, decken sich mit den Stimmen der Vergangenheit; und auch zur heutigen Situation regt sich in mir der Wunsch, ähnlich der Arbeit als Forscherin an den Exilbiographien des 20. Jahrhunderts, Eindrücke und Erlebnisse aufzufangen und zu bewahren.

So hörte ich seit 2015 von Krieg in den Herkunftsländern, von Morden an Familienmitgliedern, von Lebensbedrohung und Menschenrechtsverletzung. Und ich hörte vom tagelangen sich Dahinschleppen in bergigen Gebieten „grüner Grenzen“, vom zusammengepferchten Verharren in den Bäuchen großer Lastwägen, von der Angst vor tödlichen Schüssen an Kontrollposten und von der Gefahr des Ertrinkens in den Wogen vor der „Festung Europa“ – ein Begriff, den ich äußerst widerlich finde, weil er Nazi-Diktion ist und auch für eine Abschottungspolitik steht, die mittelalterlich anmutet. Natürlich: Nur mit der „Hilfe“ von Schleppern konnten die ihres Lebens nicht Sicheren in Sicherheit gelangen. Wie sonst sollte man über die „grünen Grenzen“ finden? Wie die Berge überqueren im Niemandsland kriegerischer Staaten? Dass die Schlepperbanden verwerflich kriminell agieren, ist das eine, dass sie Menschen – wenngleich gegen Geld – aus der Hölle holen, das andere.

Und stimmt, das Betreten der Zufluchtsländer Europas ohne gültige Papiere, das ist dann das nächste. Wie wunderbar, hätte man all diese Wege anders gehen können: Mit dem Flugticket und Einreisepapieren in der Tasche. Aber so war das eben nicht; wo hätten die Menschen, die aus Notsituationen kamen, dies auch hernehmen sollen?

Umso mehr konnte ich das in Österreich viel strapazierte Schlagwort der „illegalen Migration“ nicht mehr hören, weil ich es unfair finde, die Geflüchteten einem offensichtlichen Populismus zuliebe in die Kriminalität zu schieben. Und außerdem will ich mich nicht an Bilder gewöhnen. Ja, diesen Schlepperbanden sollte das Handwerk gelegt werden und es sollten Wege gefunden werden, die Flüchtenden unter Schutz in Sicherheit zu bringen. Das ist das Bestreben einer guten Politik – aber in der vollen Umsetzung leider auch wieder utopisch. Die Schlepper schlagen auf verwerfliche Weise aus der Not vieler Menschen Profit, und dennoch denke ich immer wieder: Ohne sie wären viele mir in Österreich lieb gewordene Menschen vielleicht am Fluchtweg umgekommen. Eine Diskrepanz. Und daher danke ich allen Menschenhänden und Hilfsorganisationen, die sich um flüchtende Menschen bemühen und die auch dafür eintreten, Asylsuchenden in den Zielländern Schutz und Unterstützung zu geben. Damals wie heute.

Mir fällt der US-amerikanische Journalist Varian Fry ein, der während der Nazizeit als Mitglied des Emergency Rescue Committee Flüchtende ohne gültige Dokumente über die Pyrenäen nach Spanien lotste. Unter seiner Hilfe gingen etwa Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel, Heinrich und Nelly Mann und Golo Mann diese Route. Die Hilfe für Flüchtende vor dem Naziregime war international, regional und lokal organisiert. Die Realisierung der entsprechenden Konventionen der Genfer Flüchtlingskonferenzen von 1936 und 1938 zu einer international gültigen Lösung der Problematik scheiterte an der Immigrationspolitik der Mitgliedsländer des Völkerbundes. Die Einstellung der Hilfsorganisationen gegenüber den Asylländern reichte von der Befürwortung oder Anerkennung deren Asylpolitik bis hin zur Ablehnung legaler Mittel und der Arbeit in der Illegalität. Man könnte viele Organisationen nennen: Ich greife das American Jewish Joint Distribution Committee heraus, die Youth Aliyah zur Organisation der Rettung von Kindern und Jugendlichen, das Emergency Committee in Aid of Displaced German/Foreign Scholars als einen auf bestimmte Personengruppen bezogenen Verband oder das Caritas- Notwerk zur Hilfe für katholische „Nicht-Arier“.

 

Es ist heikel, Phänomene zu vergleichen, die einander nur in den Grundzügen entsprechen. Was die Fluchtbewegungen der 1930er und 1940er von der aktuellen Situation unterscheidet, ist das heutige globale Phänomen, bei dem viele Aggressoren und Umstände zusammenwirken im Gegensatz zum Wüten von „nur einer“ Diktatur mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung und „missliebige Personen“ auszurotten. Man hatte es mit einem gemeinsamen Gegner zu tun, verschiedenste Interessensgruppen halfen den Opfern in Verbundenheit über die religiöse oder kulturelle Identität, über die Weltanschauung oder Politik oder schlichtweg aus humanitärer Haltung heraus.

Die Solidarität mit den Flüchtenden von heute hat es da schwerer, denn die aktuell Asylsuchenden gehören nicht „unserem“ Kulturkreis an. Dies macht es dem Rechtspopulismus im Zurechtargumentieren von Aussperren und Integrationsverweigerung ja auch so leicht. So lande ich in Österreich und bei den unter der letzten Regierung gesetzten Maßnahmen: beim geänderten Sozialhilfegrundsatzgesetz, bei längeren Wartezeiten auf die Staatsbürgerschaft, bei AMS-Kürzungen und bei erschwerten Familienzusammenführungen. Die Asylanträge in Österreich machen jetzt einen Bruchteil von 2015 aus und es gilt als wirklich positiv festzuhalten, dass viele Menschen hier Schutz fanden. Und wieder danke ich im Geiste den professionell agierenden Organisationen, die auf verschiedene Weise den Menschen beistehen: Ärzte ohne Grenzen, Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz oder Volkshilfe. Umso mehr ärgere ich mich über das von der FPÖ geschürte und die Caritas diffamierende Schlagwort von „Asylindustrie“. Die Arbeit der Caritas schätze ich sehr, durch Caritas-Freiwilligendienste am Linzer Bahnhof im Herbst 2015 fühle ich mich ihr verbunden.

Das Phänomen „Flucht“ ist das Thema unserer Zeit: Laut Angaben des UNHCR (Juni 2019) sind weltweit 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Ein Rekordhoch, das doppelt so viele Personen betrifft wie vor 20 Jahren. Im Großen gesehen ist es nicht das Problem von Europa oder der USA, die Zeltstädte in den Herkunftsländern oder in deren Nachbarländern sprechen ihre eigene Sprache und lassen sehen, was dort los ist. Ich bin froh um jede Strategie, politische Lösungen im Großen zu treffen, Hilfe vor Ort zu leisten und die Menschen auch „legal“ aus den Krisenländern zu bringen. Und ich kann der nicht müde werdenden Seenotrettung nicht genug danken, wenn sie beharrlich Menschen aus den Booten vor den Toren Europas holt und zum Anlanden bringt. Dass Rettung von Menschenleben in Europa einmal als kriminell bezeichnet werden würde, hätte ich nie gedacht.

Ich weiß, ich selber bin im sicheren Hafen meines Schreibtisches und muss auch nicht entscheiden, welche Strategien die richtigen Alternativen wären. Aber welch Verfall und welch nicht zu fassender Verlust menschlicher Werte, wenn man beginnt, nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken, ein Leben vor dem Tod zu bewahren! Diese Sekunden sind zum Dauerzustand geworden. Und daher sind mir diese Zeilen wichtig.  

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