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Vorzeitige Verhaftung

„Minority Report“ in Österreich? Der Scifi-Blockbuster von Steven Spielberg (2002) spielt im Jahr 2054, die Polizei kann dank Technologie in die Zukunft sehen und verhaftet potenzielle „Mörder“ vor der Tat.

Von Ulrike Heitmüller

Eine Drohne fliegt über ein Gebäude
Foto: iStock

Eine „vorhersehende Polizeiarbeit“ gibt es auch in der Realität. Allerdings versuchen Sicherheitsbehörden beim sogenannten „Predictive Policing“ (PrePol) nicht, zukünftige Verbrecher zu identifizieren, sondern die Wahrscheinlichkeit für Verbrechen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten einzuschätzen. Dazu nutzen sie analytische Werkzeuge auf der Grundlage statistischer Evidenzen, Computerprogramme, die Wahrscheinlichkeiten ausrechnen. Haben sie die Einschätzung, reagieren die Behörden, beispielsweise indem mehr Beamte in einem Risikogebiet Streife gehen. PrePol ist heutzutage weitverbreitet: Die meisten Polizeidienststellen in den USA setzen entsprechende Methoden ein, ebenso die europäischen, darunter auch die österreichischen. Allerdings ist PrePol nicht unumstritten. So stellt sich die Frage, welche Software man nutzt – es ist eine ganze Reihe Programmen auf dem Markt, einige von entsprechenden Wirtschaftsunternehmen, andere von Polizeibehörden selbst. Außerdem gibt es mehrere Ansätze für Prognosen, je nachdem, welche kriminologischen oder soziologischen Annahmen man zugrunde legt. Schließlich ist die Erfolgskontrolle schwierig. Und letztlich unterstützt PrePol nur das, was die Polizei sowieso macht, Neuerungen sind unwahrscheinlich.

In die Zukunft schauen

 Jacques Huberty ist Leiter des Büros für räumliche Kriminalanalyse und Geographic Profiling in der Abteilung Kriminalanalyse des Bundeskriminalamtes in Wien. „Wir haben drei große Bereiche, in denen wir Predictive Policing nutzen: seit dem Jahr 2004 die klassische Hotspot-Analyse und seit 2015 den Near- Repeat-Ansatz, und in diesem Jahr wollen wir auch mit dem sogenannten Risk Terrain Modeling anfangen.“ Doch welche Methoden sind für welche Delikte tatsächlich sinnvoll? In der Hotspot-Analyse identifiziert und untersucht man Orte, an denen dauerhaft besonders viele oder ähnliche Delikte verübt werden. Hotspots könne man leicht erkennen, aber die Frage sei, wann die Polizei davon profitiert, erklärt Jacques Huberty: „Im Grunde kann man diese Hotspot-Analysen in Bezug auf jedes Delikt anwenden, aber da muss man auch ein bisschen mit dem Menschenverstand arbeiten und bedenken, dass Taschendiebstähle natürlich vor allem in Tourismusgegenden begangen werden, also etwa in Wien im 1. Bezirk. Und da braucht man im Grunde keine Hotspot-Karte, keine sogenannte ‚Heat Map‘.“ Für andere Delikte sei diese Methode dagegen durchaus sinnvoll: „Autodiebstähle, teilweise Körperverletzungen und vor allem Sachbeschädigungen, wenn wir im Graffitibereich unterwegs sind, das sind alles Deliktbereiche, für die Hotspot- Analysen sinnvoll sind.“ Der Near-Repeat-Ansatz geht davon aus, dass bei einer Straftat in einem Gebiet die Wahrscheinlichkeit für Folgetaten steigt. Diese Theorie wurde vor allem für Wohnungseinbrüche getestet und setzt voraus, dass Einbrecher rational handeln. Auch in Österreich liegt der Fokus seiner Anwender auf Wohnungs- und Wohnhauseinbrüchen, so Huberty: „Dieses Phänomen des Near-Repeat tritt meistens in der dunklen Jahreszeit auf, es beginnt ungefähr im November und zieht sich dann bis Februar oder März durch. In diesen Monaten wird es früher dunkel, die Leute sind aber noch bei der Arbeit: Dann wird vermehrt eingebrochen.“ Dieses Phänomen trete in Europa ebenso wie in den USA auf, eigentlich weltweit. Und hier könne man die Prognosen dann genauer eingrenzen: „Wir schauen dann, gibt es Delikte, die zeitlich und räumlich beieinanderliegen? Die Algorithmen ergeben Prognosen über Risikogebiete, in denen dieses Phänomen öfters vorkommt.“ In diesen Gegenden würden dann Polizisten, in Uniform oder in Zivil, auf Streife gehen, „um hier präventiv tätig zu werden, etwa um Menschen zu kontrollieren, die auffälliges Verhalten an den Tag legen.“ Er ist zufrieden: „Wir arbeiten seit 2015 mit dem Near-Repeat-Ansatz und die Zahlen sprechen dafür, dass wir ziemlich großen Erfolg haben.“ Beim Risk Terrain Modeling (RTM) handelt es sich um eine Methode, die mithilfe von GIS die Beziehung von Verbrechen und Umgebungsfaktoren untersucht. Hier werden Informationen genutzt, die nichts mit Verbrechen zu tun haben, es geht in Richtung Big Data. Solche Umgebungsfaktoren können etwa die Nähe von Bars oder Parks sein oder auch eine Altbaubebauung mit unsicheren und schlecht gesicherten Kassettentüren. Diese Methode ist recht umstritten, weil eben auch Daten einfließen, die Unbeteiligte betreffen. Und wenn ein Gebiet als „Risikofläche“ bewertet wird, könnten dort Immobilienpreise und Mieten sinken, was – zumindest für Eigentümer – einen Nachteil bedeute. Dem hält Huberty entgegen: „Wir nutzen Flächen- und Verkehrsdaten, die zum Großteil sowieso öffentlich verfügbar sind. Außerdem untersuchen wir zwar den Modus Operandi, aber keine Individuen, wir nutzen keine personenbezogenen Daten. Und schließlich sind diese Risikoprofile, die erstellt werden, natürlich nur für den dienstlichen internen Gebrauch bestimmt. Da wird nichts öffentlich.“ Es gehe um eine rein statistische Auswertung in Bezug auf die Delikte. Ein gutes Beispiel seien Verkehrsdaten: „Die haben nun einmal Einfluss, etwa auf Körperverletzungen“ – so etwas geschehe eher in der Nähe einer Straßenbahn oder U-Bahn. Vor allem komme die Arbeit der Polizei letztlich Jedem zugute.

Erste Untersuchungen in Österreich

In Österreich wurde in den Jahren 2013 bis 2015 am Joanneum in Graz ein Forschungsprojekt zum Thema PrePol durchgeführt. Projektpartner war das Bundeskriminalamt Abt. II/BK 4, welches Daten zur Verfügung stellte, die SynerGIS Informationssysteme GmbH, die in Österreich das Geoinformationssystem ArcGIS vertreibt, mit dem man räumliche Kriminalitätsdaten analysieren kann, sodann der interfakultäre Fachbereich Geoinformatik der Universität Salzburg sowie das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) für die Untersuchung der Einstellung der polizeilichen Akteure zu Methoden des PrePol. „Räumlich haben wir uns in der Untersuchung auf Wien und Graz konzentriert, und hier auf Einbruchsdelikte sowie am Rande auch Raubdelikte“, erklärt Projektleiterin Ulrike Kleb vom Joanneum Graz. „Mithilfe von ArcGIS wurden Einbrüche visualisiert, räumlich und zeitlich, Muster ermittelt und Prognosen erstellt, wie wahrscheinlich es ist, dass in einem bestimmten Umkreis innerhalb der nächsten drei beziehungsweise sieben Tage wieder ein Einbruch verübt wird.“ Das Ganze basierte hauptsächlich auf dem Near-Repeat- Ansatz: „Wir haben Risikofaktoren in den Daten überprüft und zum Teil auch Muster gefunden und auf deren Basis dann eine Prognose erstellt, wie wahrscheinlich ist es, dass es in diesem Bereich wieder zu einem Einbruch kommt.“ Auf einer Karte wurden begangene Einbrüche eingetragen und Gebiete farblich markiert, in denen das Risiko für Einbrüche im nachfolgenden Monat besonders hoch war. Schließlich entstand eine Software, die in zwei Testphasen überprüft wurde, sowohl mit der Vorhersicht zukünftiger Ereignisse als auch rückblickend mit nachträglichen Überprüfungen vergangener Prognosen. Dabei zeigte sich, dass die Ergebnisse ähnlich präzise waren, wie man es aus der Fachliteratur von anderen Programmen kennt. Zwar wurde die Software von der Polizei nicht übernommen, aber die Resultate des Projektes fließen in deren Arbeit ein. „Das ist ein Erfolg“, sagt Ulrike Kleb.

Pro und Kontra Die Akzeptanz bei der Polizei

Mitarbeiter des IRKS führten offene mündliche Interviews mit Leuten aus unterschiedlichen Hierarchieebenen: „Bei einem halben Dutzend Kommissariaten hatten die Leute die Möglichkeit, uns ihre Sicht auszubreiten“, sagt Arno Pilgram, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim IRKS. Und wie sah die aus? Grob gesagt, waren Polizisten auf dem Land skeptischer als in der Stadt, waren ältere skeptischer als jüngere und Generalisten skeptischer als Spezialisten. „Wir haben festgestellt, dass die Polizei eine höchst heterogene Organisation ist, und dass es da doch diskrepante Sichtweisen gibt, was die Perspektive betrifft, mit diesen Instrumenten zu arbeiten, es ging von begeisterter Aufnahme bis hin zu Skepsis“, sagt Pilgram. Zudem gab es auch Vorbehalte, die teils „auch aus Erfahrungen gespeist waren, dass solche Projekte auch manchen als Karrierevehikel oder als Hilfe bei Auseinandersetzungen im Konkurrenzkampf dienen, dass sie also nicht wirklich sachlich ehrlich gemeint sind“.

Verfügbare Daten für PrePol

Die österreichische Polizei hat ebenso wie die Polizeien anderer Staaten eine polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), dazu aber auch eine weitere Datenbank, den sogenannten „Sicherheitsmonitor“. Während in der PKS die endgültigen kriminalpolizeilichen Ergebnisse nach Abschluss der Ermittlungen erscheinen, werden in den Sicherheitsmonitor auch unbestätigte Verdachtsmomente eingespeist, es ist also eine beständig aktualisierte Momentaufnahme von Ereignissen, Handlungsweisen und Verdachtsmomenten. „Darauf hat jeder Polizist Zugriff, und das österreichweit“, sagt Jacques Huberty. „Wenn jemand zur Polizei geht und Anzeige erstattet, trägt der Polizist die betreffenden Informationen in ein System namens ‚Protokollieren-Anzeigen-Daten‘, kurz PAD, ein, und sobald gewisse Parameter wie zum Beispiel Straftat, Paragraf, Tatort und Tatzeit auftauchen, überspielt PAD es automatisch in unseren Sicherheitsmonitor und wir können das innerhalb weniger Minuten abfragen. Da können wir dann Statistiken und räumliche Analysen erstellen. Wir können gewisse Fälle, die uns besonders interessieren, genauer anschauen. Jeder Polizist in ganz Österreich hat Zugriff auf diese Datenbank.“ Diese Daten allerdings sind sensibel, das machte es für die Projektpartner von Hochschule und Wirtschaft schwierig, so Ulrike Kleb, außerdem hätte man gern weitere Informationen gehabt, etwa ob es sich bei Einbrüchen um Serieneinbrüche oder Gelegenheitstaten gehandelt habe. Diese gab es aber nicht. Ähnlich Arno Pilgram: „Es war kein Big-Data- Projekt, sondern blieb im engen Rahmen von Daten aus dem Sicherheitsmonitor, die in der Praxis ja schon genutzt werden. Außerdem hat man keine personenbezogenen Daten mit einbezogen. Die Polizei verfügt über Datenbestände zu Taten und zu Personen, die aus guten Gründen strikt voneinander getrennt bleiben.“

Schluss

Gerade dies aber beeinflusse das System als solches, so Arno Pilgram: „Bei vielen Instrumentarien des PrePol sucht man Kriminalität immer nur dort, wo die Polizei sie schon gefunden hat. Das bedeutet gleichzeitig, dass man andere Dinge ganz bewusst NICHT ins Auge fasst. Die Polizei als Kontrollinstanz hat von vornherein und ganz bewusst bestimmte Verdachtshaltungen – schließlich weiß man dort aus Erfahrung, wo man suchen muss, um etwas zu finden.“ Aber vielleicht könnte man auch ganz woanders etwas finden, wenn man nur suchte? „Man weiß aus der kritischen Kriminologie, dass gewisse gesellschaftliche Gruppen vor Verdacht geschützt sind. Das Interessante bei PrePol wäre, auf der Grundlage vieler unterschiedlicher Daten zu prüfen, ob man so zu kontraintuitiven Ergebnissen käme, zu unerwarteten Ergebnissen.“ Ein weiteres Problem von PrePol besteht darin, dass man es schlecht überprüfen kann: Angenommen, die Software sagt eine hohe Wahrscheinlichkeit an einem bestimmten Ort voraus und die Polizei läuft dort vermehrt Streife. Wenn dann nicht eingebrochen wird – liegt es an der Polizei? Oder wäre ohnehin nicht eingebrochen worden, weil ein Fehler im System steckte, der Einbrecher erkältet war, oder aus irgendeinem anderen Grund? Helmut Hirtenlehner, Kriminologe an der Johannes Universität Linz, ist ebenfalls skeptisch: „Die Befunde sind nicht besonders belastbar. Einige weisen darauf hin, dass PrePol helfen kann, Tatbegehungsraten zu senken, andere wiederum sind da nicht so optimistisch.“ Und dazu komme noch ein anderes Problem: „Wenn in einem bestimmten Bereich eine hohe Einbruchswahrscheinlichkeit vorhergesagt wird und die Polizei dann komprimiert Streife geht und dort nichts passiert – organisierte Banden zum Beispiel wechseln vielleicht einfach nur den Tatort. Aber so etwas ist schwer nachzuweisen.“ Dagegen Jacques Huberty: „Diese Methoden haben einen grundsätzlich präventiven Charakter und wir alle wissen, dass es eben nicht DIE Art und Weise gibt, wie man Prävention messen kann.“ Er ist überzeugt von PrePol. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Dämmerungseinbrüche werden nämlich jährlich ausgewertet, wobei die Parameter der eingesetzten Methode hinterfragt und angepasst werden und Feedback von den Streifendiensten, Ermittlungsbereichen sowie Spurensicherungsteams eingeholt wird. Wohnungs- und Wohnraumeinbrüche unterliegen derzeit einem sinkenden Trend und die Aufklärungsquote steigt, was für die Gesamtstrategie der österreichischen Polizei in diesem Deliktsbereich spricht. „Wir haben für Gesamtösterreich einen Rückgang von 23 Prozent an Einbrüchen in der Dämmerungssaison. Das betrachte ich als einen Riesenerfolg.“