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Welt aus Glas

Es ist eine zerbrechliche Welt, in der Kinder mit seltenen Erkrankungen wie der Glasknochenkrankheit leben (müssen). Aber es ist auch eine Welt, die durch die Forschung am Kepler Uniklinikum für die kleinen großen Kämpfer täglich ein Stück weniger fragil wird.

Von Ulrich Dunst

Ein junges Mädchen eingepackt in Luftpolsterfolie.
(c) Shutterstock

Es ist, wie es ist. Aber es muss nicht so bleiben. Wie es ist, wenn man sich schon im Mutterleib die ersten Knochen bricht? Wie es ist, wenn sich dies im Laufe eines Lebens fünfzigmal wiederholen kann? Wie es ist, wenn das eigene Skelett ungewollt zur Sollbruchstelle eines fragilen Lebens wird, das manchmal nicht ohne Rollstuhl auskommt? Wie das ist, erlebt ein Kind unter 20.000. Erlebt ein Mensch, der das seltene Krankheitsbild aufweist, für das die deutsche Sprache den bildhaften Begriff „Glasknochenkrankheit“ gefunden hat. Dass die Knochen brüchig sind wie Glas, ist ein Leitsymptom. Die Ursachen jedoch sind Störungen des Knochenstoffwechsels, die durch seltene Gendefekte ausgelöst werden.

Es ist das harte Los der weltweit bisher rund 7.000 bekannten „seltenen Erkrankungen“, wie die Glasknochenkrankheit, dass wegen ihres seltenen und heterogenen Auftretens auch medizinische Expertise zu Erforschung, Diagnose und Therapie ein rares Gut ist. Medizinerinnen und Mediziner gruppieren organspezifische seltene Krankheiten in „Spezialgebiete“ – die es aufgrund der Zahl der Betroffenen in weltweiter Vernetzung zu erforschen gilt.

Mit der fünf Jahre alten Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Universität Linz und dem damit einhergehenden Aufbau neuer Expertisezentren am Kepler Uniklinikum (wie der osteologischen Spezialambulanz) taucht Linz nun verstärkt auf der globalen Landkarte zur Vermessung dieser zerbrechlichen Welt auf. „Schon im ersten Jahr konnten wir mehrere Studien in Linz etablieren beziehungsweise uns bei globalen Studien beteiligen“, erklärt Univ.-Prof. Wolfgang Högler, Vorstand der 2018 gestarteten Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde am Kepler Uniklinikum. Der gebürtige Salzburger, der zuvor 14 Jahre in Sydney und Birmingham auf seinem Fachgebiet der Hormondrüsen und Knochen (Endokrinologie und Osteologie) arbeitete, hat sich aufgemacht, die weißen Flecken der Landkarte nun von Linz aus mit Koordinaten zu versehen. Mit globaler Vernetzung – und eingebettet in das European Reference Network for Rare Diseases.

Wie es ist, wenn die Bausteine neu zusammengesetzt werden? „Wir sind die Baumeister“, hört man Wolfgang Högler in Gesprächen gerne sagen. Und damit ist nicht nur der Aufbau eines universitären Forschungsumfeldes für und mit Medizinstudenten gemeint. Vielmehr sieht er sich und sein Expertenteam im konkreten Fall als Baumeister von Knochengerüsten. Diese seien wie eine Ziegelwand, für deren Stabilität zwei Dinge unerlässlich seien: feste Ziegel – und Mörtel. Fehlt es im Körper an Kalzium oder Phosphat (sprich Ziegel), so werden Knochen weich und biegsam. Rachitis ist eine bekannte Folge, der unter anderem seltene Erkrankungen (wie etwa Hypophosphatasie) zugrunde liegen, die in Linz neuerdings ebenso erforscht werden.

Als Mörtel fungiert Kollagen – ein Protein, das zentraler Baustein von Bindegeweben, Muskeln, Sehnen, Knorpeln und eben Knochen ist. „Bei der Glasknochenkrankheit fehlt es am Kollagen zwischen den harten Ziegeln“, erklärt Högler, „das macht die Wand brüchig.“ Und nicht nur diese beginnt bei Betroffenen zu bröckeln, sondern auch die Vorstellung eines normalen Lebens. Bis hin zum Bruch mit dem Vertrauen in den eigenen Körper. Wie es ist, mit der Krankheit zu leben? Zum besseren Verständnis der Glasknochenkrankheit hilft ihr lateinischer Ausdruck: Osteogenesis imperfecta – unvollständige Knochenausbildung.

Da es sich eigentlich um eine Bindegewebestörung handelt und es den Knochen an Masse fehlt, kann auf Patienten eine Vielzahl an weiteren Komplikationen zukommen. Von der Bildung eines Wasserkopfs über eine verkrümmte Wirbelsäule („Skoliose“), Kleinwüchsigkeit und Muskelproblemen bis hin zu stark verbogenen Röhrenknochen an Armen und Beinen – die wiederum an ihrer größten Biegung die größte Brüchigkeit aufweisen.

Darum: Von der einen Krankheit zu sprechen, greift bei der Glasknochenkrankheit, trotz ihres seltenen Auftretens, viel zu kurz. Vielmehr konnten bis dato 18 verschiedene Typen beschrieben werden – was das verursachende Gen betrifft. Diese wiederum werden von ihrem Verlauf und Schweregrad in fünf klinische Formen (siehe Infokasten) eingeteilt.

Nur eines ist ihnen allen gemeinsam, wie Högler auch in Hinblick auf das neu geschaffene Zentrum in Linz anmerkt: „Bei allen Formen, die wir kennen, können wir gute Therapieerfolge erzielen.“

Wie es ist, plötzlich fünfzig Meter selbstständig gehen zu können und nicht nur zwei? Wie es ist, plötzlich ohne fremde Hilfe eine Toilette benutzen zu können? Diese Erfahrung können Patienten aus ganz Österreich am MED Campus in Linz machen, weil sie hier nach einem multidisziplinären Behandlungskonzept betreut werden. Dieses Triumvirat der funktionellen Therapie besteht aus drei Säulen:

  •  der orthopädischen, bei der die Experten der Kinderorthopädie rund um Priv.-Doz. Matthias Klotz Kindern mit verbogenen Knochen Marknägel einsetzen, die sogar teleskopartig mit den jungen Patienten „mitwachsen“ können,
  •  der physio- bzw. ergotherapeutischen, weil prinzipiell gilt: Je kräftiger die Muskulatur, desto kräftiger die Knochen (gilt auch vice versa). Höglers Konzept inkludiert daher auch die Rehabilitation,
  • und der medizinischen Therapiesteuerung, bei der mit neuen Medikamenten (Högler: „Es ist eine Wohltat für die Menschheit, wie viel sich in diesem Bereich gerade in den letzten Jahren getan hat.“) das heranwachsende Kind dabei unterstützt wird, festere und dichtere „Knochen zu bauen“.

Die Folge für Patientinnen und Patienten: weniger Frakturen, stärkere Knochen, mehr Muskelkraft, bessere Körperfunktion, Bewegungsabläufe, Mobilität, kurzum: eine höhere Lebensqualität. Jeder Schritt ist ein Fort-Schritt.

In der Kinder- und Jugendheilkunde kommt sowohl der Medizin als auch den Patienten ein wichtiger Partner zu Hilfe: das Wachstum. „Der größte Vorteil der Pädiatrie im Vergleich zur Erwachsenenmedizin ist das Wachstum. Nur dadurch können wir beim Aufbau der Knochen unterstützend als Baumeister wirken“, sagt Wolfgang Högler. Komme es zum Beispiel zu Kompressionsfrakturen in der Wirbelsäule, so könne man diese wiederaufbauen – was nach der Pubertät nicht mehr möglich sei.

Wie es ist, einen neuen Vertrauensarzt finden zu müssen? Das erfahren praktisch alle Kinder mit chronischen Erkrankungen rund um ihr 18. Lebensjahr. Dieser Übergang von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin (genannt Transition) zählt zu den schwierigsten Phasen, auch im Leben von Glasknochenpatienten. „Wir können sie nicht einfach mit einem Brief entlassen und sagen, geh zu dieser Tür dort“, sagt Högler, „wir müssen vielmehr alles daransetzen, dass die jungen Patienten auf der anderen Seite ankommen.“ Aus diesem Grund ist man am Kepler Uniklinikum derzeit dabei, in den verschiedensten medizinischen Fachbereichen eigene „Transitionsambulanzen“ aufzubauen, in denen Patienten ein Stück weit gemeinsam von beiden Welten betreut werden. Ein Übergang: Schritt für Schritt.

Wie es ist, Patienten zu helfen, die bisher noch keine Diagnose haben? „Wir müssen uns als Forscher den bisher unerklärbaren Dingen zuwenden“, lautet ein Leitsatz für das Wirken der vielen, neu an den MED Campus Linz gelotsten Koryphäen aus zahlreichen Bereichen der Medizin. Nur die Forschung von heute könne die Behandlung von morgen verbessern.

Konkret für die Arbeit seines Teams präzisiert Wolfgang Högler: „Unser Forschungsdrang kommt nicht, weil wir laborverliebt sind, sondern weil wir den Eltern und den Kindern helfen wollen, zu einer Diagnose und letztendlich optimalen Therapie zu kommen.“ Und deshalb müssen wir den Mechanismus besser verstehen. Sich immer weiter vorarbeiten in unbekanntes Terrain.

Dies führt zum nächsten Leitsatz, der insbesondere nun auch in Linz für die Erforschung genetisch bedingter, seltener Krankheiten gilt: „Wir müssen die Krankheit verstehen, sodass wir Ansatzpunkte für neue Medikamente finden können“, so Wolfgang Högler, der konstatiert, „wir können einen genetischen Defekt (noch) nicht reparieren, aber im Labor können wir das bereits.“ Aber man müsse versuchen zu erkennen, was das betroffene Gen in Körper mache, um eines Tages an dem Punkt zu sein, dass man neue Therapien entwickeln kann. Allein im Bereich der Glasknochenkrankheit gelang Högler in seiner Laufbahn mit Forschungsteams die Erstbeschreibung von zwei genetischen Typen der Glasknochenkrankheit (Typ 9 und Typ 14).

Und so formuliert es der Klinikvorstand als seinen „größten Wunsch“, motivierte Studierende und Assistenzärzte zu finden, die den inneren Drang haben, neben dem klinischen Alltag nach Antworten zu suchen. Wie es ist, wissenschaftliches Neuland zu betreten? Das können nun Studierende in Linz erfahren, nachdem es dem JKU-Team im ersten Jahr der neuen Fakultät gelungen ist, mehrere Studien im Bereich spezieller Wachstums- und Knochenerkrankungen bei Kindern (wie der Glasknochenkrankheit) ins Land zu holen. Die Studien teilen sich in drei Bereiche:

  •  In der Ursachen- und Mechanismus-Forschung gehen Högler und sein Team bei jungen Patienten, die sich häufig Knochen brechen, der Frage nach: Welches Gen ist dafür verantwortlich? Wird ein Gendefekt identifiziert, folgt im neu aufgebauten Forschungslabor die Mechanismusforschung, wo unter Federführung des ebenso neu nach Linz geholten Biologen Dr. Ahmed El-Gazzar der Frage nachgegangen wird: Welche Funktion hat das Gen, wie hängt seine Funktion mit Wachstum oder Knochenstärke zusammen und wo könnte man eventuell therapeutisch eingreifen?
  •  In der Klinischen Forschung geht es Högler auch um die Etablierung neuer diagnostischer Methoden. In Linz ist bereits eine Gruppe von Master- und PhD-Studierenden dabei, diagnostische Knochenbiopsien und Gewebeproben von Kindern mit unklaren Erkrankungen zu untersuchen. Ab dem Jahr 2020 wird mit der Anschaffung einer Computertomografie mit hochauflösender Bildgebung (HR-pQCT) in Linz auch eine „virtuelle Knochenbiopsie“ möglich sein.
  •  Drittens wird in weltweit eingebetteten Therapie und Registerstudien in Linz auch die Wirksamkeit von neuen Medikamenten untersucht. Etwa bei Glasknochenkrankheit, aber auch bei Achondroplasie (genetisch bedingter Kleinwuchs mit verkürzten Armen und Beinen) oder anderen Knochenkrankheiten, welche die eingangs erwähnte „Ziegelwand“ zu weich werden lassen (Hypophosphatasie und Phosphatdiabetes). Hier geht es allen voran um internationale, multizentrische Studien, die es auch bei seltenen Erkrankungen ermöglichen, Therapieansprechen an einer höheren Zahl an Patienten zu testen. Anders gesagt: Wenn jedes Krankenhaus auf der Welt einen Patienten isoliert betrachten würde, könnte man eine Krankheit niemals ausreichend verstehen.

Wie es ist, wenn die Ziegelmauer stabilisiert wird, aber das Fundament nachgibt? Dies erfahren Mediziner und Betroffene von seltenen Erkrankungen, wenn es ums Geld geht. Je spezieller und seltener eine Krankheit, desto teurer ist oft ihre Behandlung. Nicht selten geht es hier um mehrere Hunderttausend Euro pro Patient im Jahr. Und während in anderen Staaten wie Großbritannien ein zentrales Gremium für seltene Erkrankungen mit zentralem Geldtopf entscheidet, welche Patienten wo behandelt werden und an welchen Orten Expertise aufgebaut wird, ist dies in Österreich Ländersache. Was, so die Kritik vieler Mediziner, für die Bildung von Expertise-Zentren äußerst hinderlich sei. Und am Ende entscheiden eher Bundesländergrenzen, welche medizinische Versorgung Patienten, auch jene mit Glasknochen, erhalten. Und so schnell erhält eine Welt aus Glas noch eine Kuppel aus Glas. Der Ruf nach zentraler Koordination wird daher auch hierzulande lauter. Denn auch beim Gesundheitsbudget gilt: Es ist, wie es ist. Aber es muss nicht so bleiben.