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Wie wir leben sollen

Falter-Herausgeber ARMIN THURNHER fragt sich im Zuge einer JKU-Veranstaltung mit dem Soziologen Hartmut Rosa, in welchen Zeiten wir leben.

Von Armin Thurnher

Foto: © MAK Wien. In der Ausstellung The Happy Show stellte Stefan Sagmeister den BesucherInenn die Frage: "Wie glücklich sind Sie?"

Wie sollen wir leben? Diese uralte Frage steht im Zentrum von praktischer Philosophie, Theologie und allen möglichen Heilslehren. Wie soll ich leben? Diese Frage richtet wohl jeder Mensch an sich selbst, zumindest einige Male im Leben. Literatur und Kunst sind voll von ihr, wenn sie sich nicht sogar hauptsächlich aus ihr speisen. „Was ist schlecht? Was ist gut? Was muss man lieben, was hassen? Wozu leben, und was bin ich? Was ist das Leben, was der Tod?“, fragt sich in Lew Tolstois berühmtem Roman „Krieg und Frieden“ der verträumte und abgrundtief verwirrte, von keinerlei Existenzsorgen geplagte, aber von seiner Frau hintergangene Graf Pierre Besuchow. Er findet eine Antwort in der schwärmerischen Aufklärung der Freimaurer, was aber nichts anderes bedeutet, als dass er sich nun auf einer anderen, neuen Ebene betrügen lässt, die ihm die Vorspiegelung belässt, er lebe nun richtig und diene dem Guten. Statt seiner Frau betrügt ihn nun sein Verwalter, dessen Existenz er bisher nicht einmal wahrgenommen hatte.

Mühelos ließe sich ein Essay wie dieser allein mit Zitaten aus Literatur und Philosophie bestreiten. Da ist der Ansatz des deutsche Soziologen Hartmut Rosa genauso gut wie ein anderer.

„Mit seiner Resonanztheorie hat Hartmut Rosa einiges Aufsehen erregt. Er macht damit bekannte Phänomene in ganz neuer, beeindruckender Weise zum Thema. Moderne, Industriegesellschaft, Kapitalismus sind Steigerungs- und Wettbewerbsimperative eigen und damit auch die Beschleunigung des Lebens. Sie geht aus seiner Sicht mit Entfremdung einher, der er die Vision einer resonanten Gesellschaft entgegensetzt“, sagt Brigitte Aulenbacher, Leiterin der Abteilung für Gesellschaftstheorie und Sozialanalysen am Institut für Soziologie der JKU. Sie hat an der Johannes Kepler Universität gemeinsam mit Harald Wildfellner, der dem Institut für Angewandte Entwicklungspolitik vorsteht, mit Hartmut Rosa ein Gespräch über Beschleunigung, Entfremdung, Resonanz geführt. Rosa legt mit seiner These von der Beschleunigung der Welt eine erste wichtige Fährte und hilft uns hier mit seiner Wiederaufnahme des aus der Mode gekommenen Begriffs „Entfremdung“ weiter beim Spurenlesen.

Entfremdung, das ist ein Zustand, in dem wir Dinge tun, von denen wir wissen, dass wir sie besser lassen sollten, erklärt Rosa. Sie wissen es nicht, aber sie tun es, sagte Karl Marx. Obwohl wir es besser wissen, tun wir es, sagt Rosa. Das Ergebnis solchen wissentlich falschen Handelns kann sich nur in unglücklichem Bewusstsein ausdrücken. Das ist unser Zustand: Alle Versprechen der Moderne sind eingelöst und dennoch zugleich gebrochen. Alles geht viel schneller und leichter von der Hand; aber wir haben deswegen nicht mehr, sondern weniger Zeit zur Verfügung. Alle Informationen stehen bereit, aber wir sehen die Dinge deswegen nicht schärfer, sondern zerstreuter. Wir hören den ganzen Kosmos und enden doch halbtaub im „Resonanzdesaster“. Als Journalist kann ich aus Erfahrung Rosas These von der Beschleunigung der Welt nur beipflichten. Eine Nachricht hat keine Zeit mehr, einen Empfänger zu erreichen; der per Schiff Briefe versendende Korrespondent, der berittene Bote, der Telegraf, das Telefon, E-Mail und Social Media haben den Raum zwischen dem Ereignis und der Nachricht darüber auf nichts zusammenschnurren lassen. Konnte die Menschheit vor sechs Jahrhunderten noch ein paar Wochen lang auf Informationen über einen Krieg oder eine Seuche warten, erreicht uns heute die Nachricht zeitgleich mit dem Ereignis, ja, sie wird selbst zum Ereignis. In manchen Fällen kehrt sich die Zeitenfolge um, und Nachrichten sagen uns vorher, was wir tun werden. Im schlimmsten Fall schreiben sie es uns vor. Entfremdung ist ein Phänomen, das in direktem Zusammenhang mit der kapitalistischen Gesellschaft steht. Wenn alles die Form von Waren annimmt, wo bleibt dann die menschliche Würde? Diese definiert sich, mit Immanuel Kant gesprochen, als das, was keinen Preis hat, was sich also dem Zur-Ware- Werden entzieht.

Auch im Journalismus lassen sich beide Bewegungen nachweisen, die Beschleunigung und die fortschreitende Warenwerdung. In seiner ersten Form wandte sich – idealtypisch gesprochen – der Nachrichten sammelnde und verbreitende Journalismus an ein lesendes Publikum. Dieses bezahlte für die Nachrichten. Nicht, dass diese Beziehung edel und schlicht gewesen wäre; der Massenpresse war fast jedes Mittel recht, um die Auflage zu steigern; selbst vor Kriegstreiberei schreckte sie nicht zurück. Berühmt ist das Beispiel der Tycoons Randolph William Hearst und Joseph Pulitzer, die die USA in den Amerikanisch-Spanischen Krieg trieben, um Auflage zu machen; in Österreich hielt es Moritz Benedikt, der Herausgeber der Neue Freien Presse, vor dem Ersten Weltkrieg nicht besser.

Eine Form komplexerer Kommodifizierung bestand dann darin, dass zum lesenden Publikum die Anzeigenwirtschaft als zweites zahlendes Publikum dazutrat. Sogleich war die Tendenz zu beobachten, mediale Äußerungen dem anzupassen, was diese zweite, bald die eigentliche Zielgruppe der Anzeigenwirtschaft wollte und brauchte: Das erste Publikum wurde damit zur Zielgruppe, das Medium wurde zum „Umfeld“ von Werbung. Die erste Zielgruppe, das allgemeine Publikum, wurde mehr und mehr zum bloßen Mittel, den Zweck des Verkaufs von Anzeigen an das zweite Publikum, die Werbungtreibenden, zu befördern. Tunlichst sollte das erste Publikum wenig vom zweiten merken. Die Schreibenden und Produzierenden agierten im Dienst von Reichweite und Quote und beförderten mehr und mehr das Anzeigengeschäft.

Die in Presseorganen Schreibenden waren damit tendenziell von Schriftstellern zu Dienstleistern geworden. Das ist natürlich pauschal gesprochen, denn um das Ideal des schriftstellerischen Journalismus wurde auch noch in der kommerzialisierten Presse gerungen. Neben der Massenpresse gab es nämlich weiterhin sogenannte Qualitätszeitungen und eine Vielzahl seriöser Journale; sie gerieten aber bald ebenso in die Minderheit wie nichtkommerzielle Formen von Rundfunk und Fernsehen.

Seit dem Aufkommen der sogenannten Social Media (Facebook wurde 2004 gegründet) fließen die Erlöse aus Werbung immer mehr direkt zu Tech-Oligopolen wie Facebook und Google. Das traditionelle Anzeigengeschäft wird zum Auslaufmodell, weil die Tech-Giganten aufgrund der gesammelten Daten Menschen individuell adressieren können. Diese Daten führen zu etwas, dass die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff Verhaltensüberschuss nennt. Soll heißen: Längst haben die Tech-Oligopolisten mehr Daten über uns gesammelt, als sie für das Geschäft mit der Werbung benötigen, sodass diese Firmen nicht nur die Bedürfnisse ihres Publikums kennen, sondern voraussagen können, wie sich dieses verhält. Das wäre die dritte Potenz der Form medialer Kommodifizierung und Beschleunigung. Ehe wir selbst wissen, dass wir es tun werden (vermutlich mit dem unglücklichen Bewusstsein, es nicht tun zu sollen), sagen die Konzerne unser Verhalten voraus und machen uns Angebote, die wir in der Regel nicht ablehnen können, selbst wenn wir es wollten.

Was bedeutet dieses Modell für diejenigen, die Inhalte für Medien liefern, zum Beispiel für Journalistinnen und Journalisten? Es bedeutet nicht, dass sie überflüssig werden. Im Gegenteil: Bei manchen Medien zeigt sich eine Gegenbewegung weg vom kommerziellen Modell der Anzeigenfinanzierung, kritische Inhalte werden wieder höher bewertet (es steigen also die Erträge aus Abonnements und Einzelverkäufen, während der Erlös aus Anzeigen weiterhin sinkt). Dazu gehören Medien wie die New York Times, der Guardian oder in Österreich auch der Falter, denen sich das erste Publikum gleichsam aus staatsbürgerlicher Überlegung wieder mehr zuwendet, weil es die kommerziell und propagandistisch getriebene Hinwendung der Massenmedien zu den Stars der populistischen neuen Rechten missbilligt und nicht massiert, sondern informiert werden möchte.

Diese Massage beruht auf einem Gegengeschäft der Verführung. Die Stars dieser Rechten, von Salvini bis Trump, bedienen xenophobe Ressentiments, schüren Abstiegsängste und bieten als Lösung den Deklassierten einen verlogenen neuen Kreuzritter-Suprematismus. Das ist mehr Quote als Quixote. Hinter Trumps Aufstieg steht nicht nur vom Internetportal Breitbart und Rupert Murdochs TV-Sender Fox News verbreitete Desinformation. Beinahe sämtliche Medien widmeten Trump mehr Platz als seiner Konkurrentin, weil er besser für ihr Geschäft war als diese (man erinnere sich an den Aufstieg Jörg Haiders, den auch durchaus Haider-kritische Medien beförderten, weil er „sich gut verkaufte“).

Zur Aufblähung der propagandistischen, manipulativen Öffentlichkeit mit all ihren Spielarten algorithmischer Wahrheitsverzerrung tritt auf der anderen Seite ein Mehr an kritischem Journalismus, auch in den neuen, sogenannten sozialen Medien. Die techno-optimistischen Gefühle der Anfangszeit sind zwar längst einer skeptischen Haltung gewichen; seltener hört man noch die Ansicht, die Möglichkeit für alle, ohne „Gatekeeper“ zu publizieren, was sie wollen, bringe eine neue Qualität von ziviler Freiheit mit sich. Aber Journalistinnen und Journalisten haben sich zweifellos in den Social Media eine neue, viel breitere Öffentlichkeit erobert. Ironischerweise geschah das mit Unterstützung der sie publizierenden klassischen Medien, der Anteil daran verblasst jedoch angesichts der neuen Reichweiten. Die Öffentlichkeit der Social Media honoriert also nicht bloß Influencerinnen, Filmstars und verlogene Spitzenpolitiker (in Millionen), sondern auch journalistische Träger einer kritischen Öffentlichkeit (in Hunderttausenden). Andererseits können sich diese nicht der Dynamik der Social Media entziehen. Deren Sog beschleunigt die Nachrichten, verkürzt die Zeit zur Reflexion und zwingt zum Reflex auf immer kürzere und immer intensivere Reize, die man zugleich selbst wieder überbieten muss. Indem man reizend auf andere Reize verweist, sich mit ihnen sozusagen verbündet, sich mit anderen impaktstarken Akteuren zusammentut, indem man ihnen folgt oder sie lobt, unterstützt man die akklamative Dynamik dieser Medien, böse gesagt: ihre Mob-Struktur, während doch kritischer Journalismus gerade die deliberative Seite der Öffentlichkeit stärken sollte.

Insofern verschärft diese Dynamik die Entfremdung der Akteure von ihrem Tun. Denn selbst wenn sich ihre Medien wieder stärker auf ihre gesellschaftliche Rolle besinnen, also darauf, das Abwägen, die Deliberation der Bürger zu ermöglichen, wirkt doch die allgemeine Dynamik auf beide weiterhin: Medien müssen Aufmerksamkeit akkumulieren, und das geht nicht mehr ohne Social Media. Man benützt und macht jene Konkurrenz stärker, die einem den Teppich unter den Füßen (die Anzeigenfinanzierung) wegzieht.

Aber Akteure in den Medien sehen sich nicht mehr nur zur Optimierung ihrer Produkte gezwungen; das reicht nicht mehr. Sie werden zur Selbstoptimierung genötigt, und zwar sanft, mit der Verführung des Narzissmus. Wird doch ihr Tun nicht mehr nur in allgemeinen Termini wie der Reichweite ihres Mediums gemessen, sondern direkt in der Aufmerksamkeit, die ihr ganz persönlicher Artikel erreicht, ihre ganz persönliche Intervention auf Twitter, ihr ganz persönliches Statement auf Facebook.

Die Zahl der Follower und der Likes individualisiert die Sache auch auf Seiten jener, die Inhalte für Medien liefern. Die Zuwendung des Publikums macht sich an ihnen fest, tendenziell mehr als am jeweiligen Medium. Der Haken daran ist die Verführung, sich dieser Techniken der Selbstoptimierung nicht nur zu bedienen, sondern zweierlei zu tun: erstens die Aufmerksamkeitsakkumulation auf individuelle Weise voranzutreiben, und sich damit zweitens exemplarisch den Funktionsweisen der Social Media zu unterwerfen: Alle müssen mitmachen!

Klassische Medien zeichnen sich idealerweise durch eine Redaktion und das Vier-Augen- Prinzip aus. Die der Publikation vorangehende Diskussion soll durch solche institutionalisierte Besinnungsphasen Reflexivität garantieren. All das wird durch die Ich-Spontaneität der Social Media weggefegt. Hier reagiere ICH schnell, nur ICH bekommt hier Aufmerksamkeit. Die Datenakkumulation im Hintergrund verläuft allerdings nicht zum Vorteil dieses ICH, aber wer denkt im Augenblick des Ruhms daran? In dieser neuen Situation der publizierenden Einzelnen fällt eine weitere, bisher entscheidende Barriere: jene zwischen Marketing und Redaktion. Mit Bedacht wurde diese Schranke errichtet, damit die einen nicht zum Dienstleister der anderen werden, damit die Redaktion nicht in allerlei korrupte Geschäfte verwickelt werde. Nun, im neuen Zeitalter fällt diese Schranke. Jeder wirbt für sich, was das Zeug hält. Die mildeste Form der Werbung ist der Hinweis auf andere, lesenswerte Texte. Er dient der Erweiterung des Horizonts, heißt es. Auf was man da alles gestoßen wird! Nie wäre man von selbst darauf gekommen! Und was der oder die nicht alles kennen! (Ob sie es auch gelesen haben?) Der tadelnde Hinweis ist das hässliche Schwesterlein des lobenden.

Hier erspart man sich mit einer knappen, stirnrunzelnden Frage die ausführliche, kritische Begründung und in Wahrheit auch, Position zu beziehen. Die Frage kann schließlich zustimmend oder abschlägig behandelt werden. Man fragt ja nur.

Wie soll man, um die Eingangsfrage auf mich und meinen Beruf zu beziehen, wie soll man in dieser Lage richtig leben? Wie sich richtig verhalten? Und spricht aus dieser Analyse nicht nur der Neid eines alten weißen Mannes, der darunter leidet, dass seine großen Leistungen vor 2004 stattfanden, vor der Etablierung des digitalen Gedächtnisses, und deshalb der Nachwelt unbekannt bleiben? Wohl auch. Und ja, die Angst davor, von der neuen Welt aufgesogen zu werden, ihr süchtig anzuhängen, sich in ihr unsterblich zu blamieren, mögen ebenfalls meine Motive sein. Denn ich weiß, Entfremdung und „Resonanzdebakel“ hin oder her (dieses Wort Hartmut Rosas passt auf die Social Media wie kein anderes), ich entkomme diesem Raum nicht. Er ist längst zum notwendigen Resonanzraum für alle Medien und deren Akteure geworden.

Ich selbst habe mich aus diesen Gründen den Social Media von Anfang an verweigert und mehrfach, wenn auch unzulänglich versucht, diesen Schritt zu begründen. Meine unzulänglichen Versuche wurden mit einem höhnischen Schwall demütigender Zuschreibungen beantwortet, die mich in Bausch und Bogen als reaktionär hinstellten, als alten Mann, der seine Zeit nicht mehr versteht. Was, wie gesagt, eine gewisse Berechtigung hat.

Zwar bin ich mit meiner Haltung nicht allein, vom medienskeptischen Romancier Jonathan Franzen zur linken US-amerikanischen Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, die ihren Facebook-Account löschte, bis zum deutsche Grünen-Chef Robert Habeck, der sich von Twitter und Facebook verabschiedete. Aber zugleich muss ich mir die Frage stellen, wie weit ich meinem Medium schade, indem ich auf diese Art von Echo verzichte. Würden alle meine Kollegen handeln wie ich, hätten wir, statt erfolgreich zu sein, existenzielle Probleme.

Das Dilemma, wie man richtig leben und handeln soll, lässt sich also auch hier nicht durch Rückzug auf eine moralisch einwandfreie Position lösen. Die politische Forderung, Social Media so zu strukturieren, dass das Datengeschäft und die es strukturierenden Algorithmen transparent werden, Oligopole aufzulösen und am besten durch eine öffentlich- rechtliche Struktur der Kommunikation zu ersetzen, muss natürlich in der gesamten Öffentlichkeit erhoben werden, auch in den Social Media selbst. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, sagte berühmterweise Theodor W. Adorno.

Es gibt nur das Bemühen darum.