Optimismus in der Krise: Erste Studien zeigen stabile Lernergebnisse während des Lockdowns

Erste Studien aus Deutschland kommen zu dem Ergebnis, dass die befürchteten stark negativen PandemieEffekte auf den Lernerfolg ausbleiben.

Professor Christoph Helm
Professor Christoph Helm

Haben die Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie zu Lerneinbußen bei Schüler*innen geführt? Erste großangelegte Leistungsstudien aus Deutschland kommen zu dem Ergebnis, dass die vielfach befürchteten stark negativen Effekte der Pandemie auf den Lernerfolg ausbleiben. Ob diese Befunde auch für Österreich gelten, analysiert Univ.-Prof. Christoph Helm, Bildungsforscher an der Johannes Kepler Universität Linz.

Es ist einer der überraschendsten und zugleich der erfreulichsten Befunde der Bildungsforschung in der Coronakrise: Erste groß angelegte Leistungsstudien aus Deutschland und der Schweiz zeigen, dass sich die Lernentwicklung von Schüler*innen in der Primar- und Sekundarstufe nicht dramatisch von jener vor den Schul-Lockdowns unterscheidet.„Diese Befunde nähren die Hoffnung, dass zumindest in diesem Bereich schulischer Ziele allzu negative Auswirkungen der Corona-Pandemie abgewendet werden konnten“, sagt Univ.-Prof. Christoph Helm.

Eine der am häufigsten gestellten Fragen im Zusammenhang mit den Schulschließungen aufgrund von Corona ist die Frage nach Lernverlusten, die Schüler*innen durch den Wegfall des Regelunterrichts erleiden. Sie beschäftigt nicht nur Eltern und Lehrkräfte, sondern auch die Bildungsforschung, wie eine von Helm durchgeführte Meta-Analyse von über 100 Befragungsstudien zum ersten Lockdown in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt.

Die rund 260.000 Personen umfassende Meta-Analyse zeigt, dass etwa ein Fünftel bis die Hälfte der Schüler*innen und rund ein Drittel bis zwei Drittel der Eltern negative Auswirkungen des Fernunterrichts auf den Lernerfolg befürchten.

Eine kürzlich von Helm und seinem Forschungsteam durchgeführte und für Österreich repräsentative Elternbefragung zum dritten Lockdown im Jänner 2021 zeigt ein unverändertes Bild: 58% der Eltern stimmen der Aussage zu, dass ihr Kind während der Schulschließungen im Jänner 2021 deutlich weniger dazugelernt hat als im normalen Unterricht vor der Pandemie. Immerhin, der Anteil an Schüler*innen, die täglich weniger als zwei Stunden pro Tag für die Schule lernten, ist im dritten Lockdown deutlich gesunken. Waren es zum ersten Lockdown in einer deutschen Vergleichsstudie noch rund 40%, so fiel der Anteil auf rund 10% im dritten Lockdown.

Diese Befunde aus Befragungsstudien nährten auch bei Bildungsexpert*innen die Befürchtung von stark negativen Auswirkungen der Pandemie auf die Lernentwicklung bei Schüler*innen. Auch in den Medien wurde von Bildungsexpert*innen in letzter Zeit verstärkt auf hohe bis extreme lockdownbedingte Lernverluste hingewiesen. „Mangels fehlender Leistungsstudien für Österreich - und bis vor kurzem auch für den gesamten deutschsprachigen Raum - stellt sich allerdings die Frage, ob diese ausschließlich durch subjektive Schüler-, Eltern- und Lehrer*inneneinschätzungen genährte Expert*innenmeinung gerechtfertigt ist“, sagt Helm, denn „aktuelle Leistungsstudien aus Deutschland und der Schweiz geben eine sehr klare Antwort: Die Lerneinbußen sind entweder nicht beobachtbar oder weit weniger dramatisch als häufig befürchtet.

Stabile Lernergebnisse während des Lockdowns
Kürzlich fand die internationale digitale Tagung der deutschen Gesellschaft für empirische Bildungsforschung statt, an der führende Forscher*innen im Bereich der Messung von Schüler*innenkompetenzen ihre neuesten Befunde zur Frage der Lernverluste aufgrund der Schul-Lockdowns präsentiert haben.

Darunter erste groß angelegte Schüler*innenleistungsstudien aus den deutschen Bundesländern Hamburg (rund 28.000 Schüler*innen), Baden-Württemberg (rund 80.000), Hessen und Nordrhein-Westfalen (rund 5.000) sowie eine Studie aus der deutschsprachigen Schweiz (rund 29.000). Alle Studien verglichen den Leistungsstand oder die Lernentwicklung der Schüler*innenkohorte 2020 mit dem Lernstand oder der Lernentwicklung von Schüler*innenkohorten (meist mehrerer Jahrgänge) vor Corona, um auf Basis komplexer mathematischer Modelle die negativen Effekte der Corona-Lockdowns zu untersuchen. Die Leistungen wurden in den Bereichen Deutsch, Lesen und/oder Mathematik erfasst.

Sämtliche Studien aus Deutschland zeigen, dass entweder keine oder nur schwache Unterschiede(etwa im Ausmaß von vier Wochen Lernzuwachs) zwischen den Schüler*innenleistungen (und Leistungsentwicklungen) vor und während bzw. nach Corona beobachtbar sind“, sagt Helm. „Es konnten jedenfalls keine dramatischen Einbußen in den untersuchten Kompetenzen durch coronabedingte Veränderungen im Unterrichtsgeschehen festgemacht werden.“ Mit einer Ausnahme: In der Schweizer Studie zeigte sich für die Schüler*innen der Primarstufe ein nur halb so großer Lernerfolg wie vor dem Lockdown. Auch aus den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien liegen erste nationale Leistungsstudien vor, die teilweise auf deutliche Lernverluste hinweisen – insbesondere wiederum für die Primarstufe und für Schüler*innen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien. Auch das Fach macht einen Unterschied, so werden für Lesen meist deutlich geringere Lerneinbußen als für Mathematik beobachtet.

In Summe spricht die sehr junge Befundlage aus den deutschsprachigen Nachbarländern dafür, dass die vielfach befürchteten negativen Effekte von Corona im Bildungsbereich zumindest in Deutschland vorerst ausgeblieben sind“, so Helm.

Wird der präsente Regelunterricht überschätzt?
Offenbar konnten Schüler*innen, Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen und Schuladministrationen sowie nicht zuletzt die Bildungspolitik negative Effekte der Schul-Lockdowns abwenden – zumindest hinsichtlich des fachlichen Lernens der Schüler*innen. Insbesondere Eltern dürfte es trotz ihrer Mehrfachbelastungen im Lockdown gut gelungen sein, den Wegfall der schulischen Strukturen zu kompensieren. Eine mögliche Erklärung ist also, dass sich die Akteur*innen des Schulsystems rasch in der neuen Situation zurechtgefunden haben. Eine andere Erklärung könnte in einer Fehleinschätzung liegen: Offenbar werden Quantität und Qualität der echten Lernzeit im Regelunterricht generell höher bewertet, unterscheiden sich tatsächlich aber nicht so sehr von jener im Fernunterricht. So wird im Regelunterricht häufig viel Zeit mit Zuhören und Warten verbracht (laut Studien bis über die Hälfte der Unterrichtszeit), während geistig-aktivierende Tätigkeiten, wie das selbstständige Arbeiten oder das kooperative Lernen, bei denen Aufgaben und Probleme gelöst werden und tatsächlich auch gelesen, geschrieben und gerechnet etc. wird, häufig eher gering ausgeprägt sind. Hinzu kommt ein hohes Ausmaß an Fehlstunden für bestimmte Schüler*innengruppen.

Und wie steht Österreich da?
Inwiefern die Befunde aus Deutschland und der Schweiz auch für Österreich gelten, ist aufgrund fehlender Leistungsstudien in Österreich nicht mit Sicherheit zu sagen. Hier sind Bildungspolitik und Bildungsforschung gefordert aktiv zu werden. Fest steht, dass die Bildungssysteme in den deutschen Bundesländern und den Schweizer Kantonen dem österreichischen Bildungssystem ähnlicher sind, als die angelsächsisch ausgerichteten Systeme. Die Befunde aus Deutschland geben vorerst auch für Österreich Anlass zu Optimismus. Leistungsstudien zu späteren Lockdowns, die im Vergleich zu Deutschland in Österreich stärker ausgeprägt waren, stehen noch aus. Allerdings zeigen erste repräsentative Elternbefragungen in Deutschland und Österreich, dass die von Schüler*innen zuhause aufgewandte Lernzeit gestiegen ist und viele mit dem Fernunterricht nun besser zurechtkommen. Dies legt die Annahme nahe, dass Lerneinbußen noch weniger wahrscheinlich sind.

Wie gut österreichische Schüler*innen tatsächlich durch die Krise gekommen sind, wird sich spätestens dann zeigen, wenn die nächsten internationalen Leistungsstudien (PISA, TIMSS, PIRLS, …) wieder durchgeführt werden können.

Bei der Diskussion um Schüler*innenleistungen darf nicht auf die vielfach wissenschaftlich belegten, negativen Effekte der Pandemie auf die psycho-soziale Lage der Kinder und Jugendlichen vergessen werden!“, warnt Univ.-Prof. Helm. „Sie scheinen aber offenbar nicht mit negativen Entwicklungen in den Schüler*innenleistungen einherzugehen.

Eine Übersicht der Leistungsstudien mit Quellen zu den Originalberichten finden Sie hier, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster