Trauer um Prof. Siegfried Bauer

Mit Siegfried Bauer (1961 - 2018) ist ein ungewöhnlicher Forscher und Lehrer der JKU und ein besonderer Mensch viel zu früh von uns gegangen.

Siegfried Bauer
Siegfried Bauer

Große Neugier und eine ganz eigene Sicht auf alles, was um ihn herum geschieht, ein unbändiger Wille, aus jeder Erfahrung etwas zu lernen, Grundvertrauen in seine persönliche Umgebung und in seine eigene Begabung sowie eine gesunde Skepsis gegenüber sogenannten Autoritäten und etabliertem Buchwissen schienen ihm in die Wiege gelegt worden zu sein. Unvergesslich sind auch sein großartiger Sinn für einen oft eigenwilligen, aber nie verletzenden Humor und sein Spaß am Denken in ungewöhnlichen Bahnen und am Finden von überzeugenden und funktionierenden Problemlösungen.

Mit dem Ableben von Herrn Prof. Siegfried Bauer hat die JKU einen ihrer visionärsten Forscher und besten Lehrer verloren. Sein wissenschaftliches Oeuvre hat die Physik und die Ingenieurwissenschaften rund um den Globus stark beeinflusst. Wir verneigen uns mit großem Respekt und großer Dankbarkeit vor der Lebensleistung von Herrn Prof. Bauer. Unser ganzes Mitgefühl gilt seiner Familie und seinen Freunden", so JKU-Rektor Meinhard Lukas.

Der verheiratete Vater zweier Kinder stammte aus dem kleinen Ort Berghausen im Pfinztal, wo er als jüngster von vier Söhnen in einer bodenständigen Handwerkerfamilie mit Nebenerwerbslandwirtschaft aufwächst. Schon in der Schule hat er das Glück, einen Physiklehrer zu finden, der ihn motiviert und begeistert. An der Universität Karlsruhe studiert er daraufhin ab 1980 Physik. Hier sieht er manche Merkwürdigkeit des etablierten Lehr- und Forschungsbetriebs mit kritischem Humor, aber findet auch immer wieder Professoren, die ihn begeistern, fördern und fordern. Darunter ist vor allem sein Doktorvater Wolfgang Ruppel, ordentlicher Professor für Angewandte Physik, den er verehrt und für den er „jederzeit durchs Feuer gehen“ würde. Professor Ruppel ermöglicht ihm, in einer Umgebung von klassischen Festkörperphysikern ab 1986 an den damals oft noch als „Schmutzphysik“ abgetanen Polymer-Ferroelektrika zu arbeiten (was sich bald ändern sollte).

Seine Promotion zu ferroelektrischen Polymeren kann Siegfried Bauer 1990 erfolgreich verteidigen, um anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Karlsruhe, als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Karlsruhe und in Projekten an den Universitäten in Karlsruhe, Marburg und Stuttgart Erfahrungen in Lehre und Forschung zu sammeln. 1992 geht er dann als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter ans Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik in Berlin-Charlottenburg, wo er eine große wissenschaftliche Produktivität mit zahlreichen neuen Methoden und viel zitierten Forschungsergebnissen, vor allem auf dem Gebiet der nichtlinearen Optik und Photonik mit elektrooptischen Polymeren, entfaltet. Einige seiner herausragenden Arbeiten werden 1994 mit dem Preis der Informationstechnischen Gesellschaft im VDE (ITG-Preis) und mit dem Kurt-Überreiter-Preis des Berlin-Brandenburgischen Verbands für Polymerforschung ausgezeichnet. Erfolgreiche Auslandsaufenthalte führen ihn an die École Polytechnique de Montréal in Kanada, an die University of Arizona in Tucson und an das National Institute of Science and Technology in Gaithersburg, Maryland. Diese und weitere internationale Kooperationen bereichern das Spektrum seiner Forschungsarbeiten und führen zu wegweisenden gemeinsamen Veröffentlichungen.

Siegfried Bauers erfolgreiche Zeit in Berlin und Potsdam gipfelt 1996 in seiner vielbeachteten Habilitation am Lehrstuhl für Angewandte Physik kondensierter Materie der Universität Potsdam zum Thema „Gepolte Polymere für Anwendungen in der Sensorik und Photonik“. 1997 erhält er dafür den renommierten Karl-Scheel-Preis der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin. Seinem Mentor aus dieser Zeit, Professor Reimund Gerhard, bleibt er zeit seines Lebens in tiefer Freundschaft verbunden. Nach der Ernennung zum Privat-Dozenten findet er sehr bald unter mehreren Angeboten eine Professur an der Johannes Kepler Universität (JKU) in Linz, wo er ab Oktober 1997 als Außerordentlicher Universitätsprofessor lehrt und forscht. Im Jahr 2002 wird er ordentlicher Professor für Experimentalphysik und leitet die Abteilung „Physik der Weichen Materie“, die er bis zu seinem frühen Tod in Forschung und Lehre immer weiter entwickelt und zu großen Erfolgen geführt hat.

In den mehr als zwanzig Jahren seiner Linzer Zeit hat Siegfried Bauer mit seinem Team einen ganz eigenen Stil in Forschung und Lehre entwickelt - eine Arbeitsweise, die mit offenen Fragen beginnt, die unkonventionelle Sichtweisen spielerisch einbezieht, die das zeitweilige Scheitern einkalkuliert und für den Lernprozess nutzt, und die sich immer auf die Menschen, ihr enges Zusammenwirken und ihre ungeheuren Möglichkeiten einstellt. Dabei werden immer wieder Grenzen z.B. zwischen Fachdisziplinen und Fächern, zwischen Theorie und Anwendung, zwischen Kulturen und Ländern, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Philosophie und Natur- oder Ingenieurwissenschaften, zwischen Ernst und Spaß usw. überschritten. So war es fast unvermeidlich, dass Professor Bauer immer wieder bei einigen Zeitgenossen angeeckt ist, weil er liebgewonnene Gewissheiten und verbindliche Konventionen ganz unbefangen in Frage gestellt und einer sokratischen Prüfung unterzogen hat.

Der originelle Bauersche Wissenschaftsansatz hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der „Physik der Weichen Materie“ der JKU Linz zu beeindruckenden Erfolgen und Ergebnissen in Forschung und Lehre geführt, die weltweit Beachtung fanden und von denen hier nur einige wenige beispielhaft genannt werden können:

- Mit klarem Blick und intensiver Forschungsarbeit hat Siegfried Bauer um die Jahrtausendwende das in Finnland entstandene, neue Gebiet der polymeren Ferroelektrete, dem er auch den Namen gegeben hat, wesentlich vorangebracht und gemeinsam mit einigen wenigen wissenschaftlichen Partnern in aller Welt zu einer andauernden weltweiten Blüte in Forschung und Anwendung geführt.

- Mit zahlreichen Anwendungsbeispielen und grundlegenden Untersuchungen wurde in Siegfried Bauers Gruppe, teilweise in enger Kooperation mit Partnern in aller Welt, das Gebiet der flexiblen, dehnbaren und biegsamen Elektronik mit Polymeren konzipiert und entwickelt. In den Arbeiten der Linzer Arbeitsgruppe wurden immer wieder wesentliche Schritte demonstriert, um aus vermeintlich „verrückten“ Ideen technisch umsetzbare Anwendungen zu entwickeln. Siegfried Bauer hat hier wesentlich zu einem neuen Denken über weiche aktive Materialien und deren Anwendbarkeit beigetragen.

- Aus der Erkenntnis, dass menschengerechte Anwendungen die NutzerInnen nicht stören und im Idealfall von ihnen nicht einmal wahrnehmbar sein sollten, entwickelte Siegfried Bauer mit seinem Team das Konzept der nicht (mehr) wahrnehmbaren, biokompatiblen Elektronik. Diese Linzer Arbeiten wurden sehr schnell weltweit aufgegriffen und erfolgreich weiterentwickelt, wobei manchmal vergessen wird, wie viel dabei dem Weitblick und der spielerischen Fantasie des kreativen Geistes Siegfried Bauer zu verdanken ist.

- In Siegfried Bauers neuester Arbeit, die gerade erst im American Journal of Physics erschienen ist, wird eine Hochgeschwindigkeitskamera in einem Hochhaus eingesetzt, um das Fallen von Papierhütchen genau zu verfolgen. Aus den Ergebnissen lässt sich bei kritischer Betrachtung erkennen, dass der philosophische Streit zwischen Aristoteles und Galilei zum Fallprozess eigentlich keiner ist, wenn die jeweils implizit mitgedachten Voraussetzungen explizit einbezogen werden. Das unmittelbare Erleben und Erkennen der vielfältigen Möglichkeiten des Fallens in einem Medium hilft auch in der schulischen und universitären Lehre beim Erlernen eines differenzierten physikalischen Denkens.

Die ungewöhnliche Herangehensweise und der tiefe Einblick in die wesentlichen physikalischen Grundlagen haben Siegfried Bauer und seiner Gruppe nicht nur viele weltweit anerkannte Veröffentlichungen ermöglicht, sondern auch zu einer Reihe von besonderen Auszeichnungen geführt, wovon insbesondere die Einwerbung eines der seltenen, hochdotierten Advanced Investigator Grants des European Research Council (ERC) durch Siegfried Bauer im Jahr 2011 sowie die Verleihung renommierter Fellowships des Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) und der Society of Photo-Optical Instrumentation Engineers (SPIE) an Siegfried Bauer in den Jahren 2016 bzw. 2018 erwähnt seien.

Seine Familie und Freunde, die internationale WissenschaftlerInnen-Gemeinschaft, die Universität Linz, seine KollegInnen, seine Studierenden, SchülerInnen und viele andere werden Siegfried Bauer sehr vermissen, aber auch stets als besonderen Menschen und als inspirierenden, fördernden und humorvollen Zeitgenossen in Erinnerung behalten. Sein Leben und sein Werk werden in und durch uns noch lange weiterwirken.

Basierend auf einem Nachruf verfasst von Prof. Dr. Reimund Gerhard, FAPS, FIEEE, Universität Potsdam und IEEE DEIS