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Unordnung

Wie entsteht aus Chaos Struktur? In der Theoretischen Physik verbindet diese Frage so unterschiedliche Themen wie Tsunamiwellen und Kometenschweife. JKU-Professor Tobias Kramer räumt hier ganz schön auf, und zwar mit Grafikkarten.

Von Benjamin Breitegger

Im Grunde ist alles ganz einfach. Es gibt zwei Arten von Problemen: die ungelösten und die trivialen. Man muss nur die ungelösten Probleme in triviale überführen. Job erledigt. Ist die Lösung erst einmal gefunden, erscheint alles simpel. Das, was früher Kopfzerbrechen bereitete, ist auf einmal klar. Der Theoretische Physiker Marcos Moshinsky hat so seine Aufgabe prägnant heruntergebrochen. Das erzählt Tobias Kramer, dessen Mentor Moshinsky einst war. Kramer ist Professor für Theoretische Physik an der JKU Linz und Leiter der Abteilung Quantendynamik und klassische Dynamik. Sein Glück ist: Ganz so trivial ist die Welt nicht. Es gibt noch eine Menge ungelöster Probleme.

Theoretische Physiker*innen interessieren elementare Prozesse. Es gilt, die Prinzipien von Naturphänomenen zu abstrahieren und mithilfe von mathematischen Modellen zu erklären. Am Ende steht die Welt als Formelsammlung. Den 47-jährigen Tobias Kramer beschäftigt die Frage, wie sich Struktur herausbildet, oder einfacher: wie Ordnung aus Unordnung entsteht. Es ist eine Frage, die sehr unterschiedliche Themen verbindet: etwa die Elektronenverteilung in Halbleitern und Tsunamiwellen – oder auch: Kometenschweife. Verschiedene physikalische Erscheinungen, denen aber eines gemein ist: Sie sind Ausbreitungsphänomene. Und sie lassen sich zwar nicht mit denselben Formeln, aber doch mit ähnlicher Mathematik berechnen. „Das ist erst in den vergangenen Jahren ins Bewusstsein gerückt“, sagt Kramer, vielleicht auch, weil der Spezialisierungsgrad der Physik immer größer und der Austausch zwischen den Gebieten kleiner wird, so seine Vermutung.

Es geht nie nur um den Mittelwert. Das Geheimnis steckt in den Fluktuationen.

Kometenschweife? Tsunamiwellen? Was lässt sich lernen über Struktur bei so unterschiedlichen Dingen? Universell ist, dass eine Welle oder Strahlen winzigen Zufallsschwankungen in der Ausbreitung unterworfen sind. Die Physik nennt das entstehende Phänomen „branched flow“, was man mit „verzweigter Strom“ übersetzen könnt e. Beispiel Tsunami: Die jeweilige Meerestiefe bestimmt mit, wie hoch, wie schnell und in welche Richtung sich Tsunamiwellen ausbreiten. Man muss selbst kleinste Details über den Meeresboden wissen, um Voraussagen treffen zu können. Oder wie der Physiker sagt: Man braucht eine gute Kenntnis der Potentiallandschaft. Wichtig sind nicht statistische Mittelwerte, sondern das Wissen um Fluktuationen. Das macht Berechnungen so komplex. Dieses „branched flow“-Phänomen wird gerade in verschiedenen Gebieten der Physik neu entdeckt. Die Expansion des Kosmos etwa, sagt Kramer, werde oft als Fluid-Modell beschrieben: Das heißt, man geht von einer konstanten Dichte aus, wie in einer Flüssigkeit. Doch schauen wir mit dem Teleskop in den Himmel, sehen wir Sterne und Planeten. Wir sehen, dass sich Materie entlang bestimmter Bereiche lokalisiert. Sich also eine Struktur bildet. Wie kommt es dazu?

Ist es Zufall? Oder folgt das Ganze vielleicht doch einem Gesetz?

Beispiel Kometen: Sie leuchten auf, brechen auseinander, verschwinden. Geordnetes Verhalten? Fehlanzeige. So scheint es. Ist es trotzdem möglich, die spektakulären Kometenschweife (eine Mischung von Gasen und Staubteilchen) zu berechnen? Diese Frage stellt sich Tobias Kramer, der sich als Amateur-Astronom bezeichnet, am Beispiel von Churyumov-Gerasimenk o. Ihn fasziniert der spektakuläre Strahlenkranz des liebevoll „Tschuri“ genannten Kometen. Bilder zeigen: In bestimmte Richtungen leuchtet er heller. Die Standarderklärung dafür sei, so Kramer, dass dort einfach mehr Staub vom Kometen abgehe, sprich: Es sei Zufall. Seine Annahme hingegen: Der Komet ist gleichmäßig mit Staub bedeckt, die Anfangsverteilung homogen. Nur durch spätere Ablenkungen konzentriere sich Staub in bestimmten Bahnen, dem „verzweigten Strom“. Und diese Ablenkungen lassen sich berechnen. Es gibt also Struktur im scheinbaren Chaos. Dass Kramer zu „Tschuri“ forschen kann, hat mit der Europäischen Weltraumorganisation zu tun. Deren Raumsonde Rosetta begleitete den rund drei Kilometer langen Kometen zwei Jahre lang und sammelte Daten. Mit „Comet Interceptor“ soll 2029 eine neue Raumsonde starten, sie soll neu entdeckte Kometen oder Objekt e außer halb unseres Sonnensystems ansteuern und untersuchen. Die mathematischen Modelle, um solche Kometenschweif-Abweichungen zu berechnen, sind hochkomplex. Die Gleichungen zu lösen, setzt Rechenleistung voraus. Theoretische Physiker*innen haben dabei eines mit Gamer*innen und Bitcoin-Schürfer* innen gemein: Sie alle benötigen Grafikkarten. Früher waren Grafikkarten auf Geometrie-Berechnungen beschränkt. Heute ist der Leistungsumfang deutlich höher. „Moderne Grafikkarten können erweiterte Rechenoperationen durchführen, etwa Matrizen multiplizieren“, sagt Kramer, sie sind perfekt geeignet für komplexe Berechnungen.

Der Physiker plant, ein leistungsfähiges Grafikkartensystem der neuesten Generation an der JKU Linz einzusetzen. Ein großer Teil seiner Arbeit besteht darin, neue Algorithmen zu finden. „Es geht darum, das jeweilige Problem effizient zu parallelisieren“, erklärt Kramer. Nur so kann die vorhanden e Rechenkapazität optimal genutzt werden. In Zukunft könnten für seine Berechnungen Quantencomputer zum Einsatz kommen, die ultimativen Parallelcomputer. Das Potenzial ist enorm. Doch bis dahin dürfte es noch zehn Jahre dauern, schätzen Expert* innen. Quantencomputer sind bisher nicht stabil genug. Das Wettrennen hat zwar längst begonnen, Milliarden werden investiert. Doch die technische Revolution muss noch auf sich warten lassen. Die Grundaufgabe wird dieselbe bleiben: ungelöste Probleme in triviale zu übersetzen. An der Theoretischen Physik fasziniert Tobias Kramer, dass sie Zusammenhänge über Spezialgebiete hinweg erkennt. Von den kleinsten Einheiten bis hin zum Universum: Alle Bereiche sind mögliche Aufgabengebiete – das macht das Fach besonders. „Wir können von Elektronen zu Kometen wechseln“, sagt Kram er, „denn wir brauchen keine neue Apparatur.“ Vorerst braucht es nur leistungsfähige Grafikkarten, um Ordnung in der scheinbaren Unordnung zu finden. Klingt fast, nun ja, trivial.