Tag der Geschlechterforschung

Vom Gender Pay Gap bis zu Femiziden – Männer und Frauen finden unterschiedliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen vor.

Any Other Questions; Credit: Kunstuni Linz
Any Other Questions; Credit: Kunstuni Linz

Diese zu erforschen und Lösungen für erkannte Benachteiligungen zu erarbeiten ist ein wichtiger Teil der Geschlechterforschung. Eine Aufgabe, der sich die Johannes Kepler Universität Linz stellt, z.B. mit dem Institut für Frauen und Geschlechterforschung (Leitung: Prof.in Doris Weichselbaumer) und dem Institut für Legal Gender Studies (Leitung: Prof.in Silvia Ulrich).

Beide Professorinnen wurden für ihre Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Geschlechterforschung vielfach ausgezeichnet. Sie sind u.a. Trägerinnen des Gabriele Possanner Staatspreises für Geschlechterforschung und des Käthe Leichter Preises für Frauenforschung, Geschlechterforschung und Gleichstellung in der Arbeitswelt.

Zum Tag der Geschlechterforschung sprechen die beiden Expertinnen über die Aufgabe ihres Forschungsbereichs, konkrete Projekte und Gründe für die hohe Zahl an Morden an Frauen.

Geschlechtergerechtigkeit ist eines der großen und viel diskutierten Themen unserer Zeit. Ein Blick zurück: Bereits 1975 wurde die Vorrangstellung des Mannes als „Haupt der Familie“ abgeschafft und die partnerschaftliche Ehe eingeführt; seit 1989 können Väter in Karenz gehen. Heute besteht auch ein Rechtsanspruch auf den „Papamonat“. Es sind aber nach wie vor die Frauen, die die Care-Aufgaben großteils alleine stemmen. Was sind die Gründe dafür?

Doris Weichselbaumer: Prinzipiell ist die Persistenz, also die Beständigkeit, von Geschlechternormen, sehr hoch. Solche Normen schreiben Frauen noch immer die Verantwortung für die Familie zu, während Männer vor allem im Beruf erfolgreich sein sollen. Etwa der World Value Survey zeigt, dass solche Zuschreibungen in Österreich traditioneller sind als zum Beispiel in Skandinavien oder in den englischsprachigen Ländern.

Silvia Ulrich: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die partnerschaftliche Aufteilung der Care-Aufgaben ist trotz der genannten Reformen bis heute eine große Baustelle geblieben. Das Recht muss u.a. Antworten auf die strukturellen Hürden finden, die junge Väter daran hindern in Karenz zu gehen. Es braucht aus meiner Sicht verpflichtende partnerschaftliche Karenzmodelle und korrespondierend dazu auch einen gesetzlichen Auftrag zur Erstellung innerbetrieblicher Gleichstellungskonzepte, die eine Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf sicherstellen.

Ebenfalls stark im Fokus sind Morde an Frauen. Haben wir in Österreich ein Femizid-Problem?

Silvia Ulrich: Leider ja. Und dies trotz der grundsätzlich guten Gewaltschutzgesetzgebung, die in Österreich in den letzten Jahren weiter ausgebaut wurde. Heuer hat es bereits rund 30 Frauenmorde gegeben. Im Vorjahr wurden 11.495 Annäherungs- und Betretungsverbote verhängt und 20.587 Opfer familiärer Gewalt von den Gewaltschutzzentren betreut. 91% der Gefährder waren männlich. Das Gebot der Stunde sind nachhaltige Präventionsmaßnahmen, insbesondere konsequente und effektive Täterarbeit sowie gesamtgesellschaftliche Bewusstseinsarbeit. Das verlangt u.a. auch die UN-Frauenrechtskonvention, die Österreich bereits 1982 ratifiziert hat. Denn Morde an Frauen sind nicht als „tragische Einzelereignisse“ einzuordnen. Geschlechtsspezifische Gewalt hat strukturelle Ursachen und ist im Kontext ungleicher Machtverhältnisse und frauenfeindlicher Geschlechterstereotypen zu sehen, die Männergewalt gegenüber Frauen begünstigen. Hier sind auch die Medien in der Pflicht, diese Erkenntnisse adäquat zu vermitteln.

Vor einigen Tagen hatte der Kurzfilm „Any Other Questions”, eine Kooperation zwischen der JKU und der Kunstuniversität Linz, Premiere. Der Kurzfilm ist auch auf der JKU Homepage abrufbar. Prof.in Weichselbaumer, der Film basiert auf Ihren Studienergebnissen, Sie waren auch zentral in diese Produktion involviert. Können Sie kurz von dem Film erzählen?

Doris Weichselbaumer: Der Kurzfilm zeigt Personen, die sich hinsichtlich Geschlecht, Ethnizität, sexueller Orientierung und Religion unterscheiden, in zwei verschiedenen Szenen. Die erste mutet surreal an. Die Personen befinden sich in einem scheinbaren Kinderspiel und dürfen nur dann vorrücken, wenn Sie bestimmte Merkmale aufweisen – die gefragten Merkmale („lokal klingender Name“, „keine Kinder“, „kein Kopftuch“) privilegieren manche Personen und lassen andere zurück. Anschließend werden dieselben Personen in einem Bewerbungsgespräch gezeigt. Während die Personalverantwortliche eingangs bemüht erscheint, tritt ihr diskriminierendes Verhalten im Verlauf der Gespräche immer deutlicher zutage.

Inwiefern wurde der Film von Ihren Studienergebnissen inspiriert?

Doris Weichselbaumer: Ich habe über die Jahre mehrere Studien durchgeführt, die untersuchten, inwiefern Firmen bei der Stellenbesetzung diskriminieren. Dafür wurden fiktive Stellenbewerbungen von gleich qualifizierten Personen ausgeschickt, die sich hinsichtlich Geschlecht, Ethnizität, Migrationshintergrund, sexueller Orientierung oder Religion unterschieden. Weiße, heterosexuelle Menschen ohne Migrationshintergrund werden typischerweise bevorzugt. Geschlechter haben unterschiedliche Chancen je nachdem, ob es sich um männerdominierte oder frauendominierte Berufe handelt.

Welche Gruppe wird am stärksten diskriminiert?

Doris Weichselbaumer: Das weitaus höchste Ausmaß von Diskriminierung habe ich für Frauen ermittelt, die ein muslimisches Kopftuch tragen. Darum spielt auch die kopftuchtragende Frau im Film eine zentrale Rolle.

Prof.in Ulrich, auch Sie arbeiten viel zu Diskriminierung, insbesondere zum Antidiskriminierungsrecht. Was sind die zentralen Erkenntnisse aus Ihrem Forschungsfeld?

Silvia Ulrich: Wesentlich ist nicht nur die Bekämpfung von unmittelbarer Diskriminierung aufgrund von Identitätsmerkmalen wie Geschlecht, Ethnizität usw., sondern auch die mittelbare Diskriminierung, bei der sich scheinbar neutrale Anforderungen auf ganz bestimmte Personengruppen nachteilig auswirken. Ein effektiver Diskriminierungsschutz muss darüber hinaus Konstellationen von Mehrfachdiskriminierung erfassen, bei denen – wie bei einer kopftuchtragenden Frau – mehrere Diskriminierungsgründe untrennbar miteinander verschränkt sind. Die Antidiskriminierungsforschung zeigt aber auch, dass Diskriminierungsschutz ein leeres Versprechen bleibt, wenn Diskriminierungsopfern der Zugang zum Recht aufgrund von Bildungsferne und/oder anderer sozialer Barrieren erschwert ist. Ein zentraler Forschungsfokus ist daher auch die Verbesserung der Rechtsdurchsetzung für benachteiligte Gruppen.

Welche Bedeutung hat die Geschlechterforschung für Rechtsreformen und gesamtgesellschaftliche Veränderungen? 

Silvia Ulrich: Eine der Hauptaufgaben der Legal Gender Studies ist die geschlechterkritische Analyse des Rechts, u.a. im Hinblick auf Schutzlücken und Effektivität von Antidiskriminierungsvorschriften. Die dadurch angestoßenen Rechtsdiskurse sind ein wichtiger Faktor für die Weiterentwicklung von Recht. Dazu ein Beispiel: Wir haben 2018 eine Fachtagung zum Thema „Hass im Netz – Grenzen digitaler Freiheit“ veranstaltet und die wissenschaftlichen Inputs dazu in einem gleichnamigen Sammelband dokumentiert. Viele der darin diskutierten Reformansätze wurden 2020 mit dem „Hass-im-Netz-Bekämpfungs-Gesetz“ umgesetzt.

Welche Forschungsansätze kennzeichnen die Geschlechterforschung?

Doris Weichselbaumer: Bei den Gender Studies kommen unterschiedliche empirische Methoden und Theorien zum Einsatz. Gemeinsam ist all diesen Forschungszugängen, dass Geschlecht als eine grundlegende Dimension gesellschaftlicher Ordnung sichtbar gemacht wird. Heutzutage wird Geschlecht meist in Verbindung zu anderen Ungleichheitsmerkmalen (z.B. Ethnizität, Religion, sexuelle Orientierung, Alter, Disability) gesetzt. Daher integrieren die Gender Studies auch Erkenntnisse der Critical Race, Postcolonial, Queer und Disability Studies. Ein spezieller Forschungsstrang der Gender Studies sind auch die sogenannten Men’s Studies, die u.a. negative Konsequenzen von traditionellen Männlichkeitsbildern auf das Leben von Männern selbst untersuchen.

Silvia Ulrich: Die Legal Gender Studies sind ein Teilgebiet der Geschlechterforschung. Dieser Forschungszweig steht in der Tradition einer kritischen Rechtswissenschaft. Im Zentrum stehen Analysen gesellschaftlicher Ungleichheit aus der Perspektive der Menschenrechte sowie das Schutzpotenzial des Antidiskriminierungsrechts. Auch die feministische Rechtstheorie und die rechtshistorischen Dimensionen der Geschlechterverhältnisse sind tragende Säulen in Forschung und Lehre.

Was sind Ihre aktuellen Forschungsprojekte?

Doris Weichselbaumer: Derzeit beschäftige ich mich mit Kolleg*innen etwa mit geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden von Universitätsabsolvent*innen, in einer anderen Studie untersuchen wir den Effekt von sexueller Orientierung auf die Löhne. Andere Projekte betreffen etwa die Diskriminierung von ethnischen Minderheiten bei der Wohnungssuche oder die Frage, inwiefern Väter, die Karenzzeiten in Anspruch nehmen und somit traditionelle Geschlechterrollen verletzen, am Arbeitsmarkt diskriminiert werden.

Silvia Ulrich: Ich befasse mich derzeit mit Gewaltschutz und Empowerment für Frauen und Mädchen mit Behinderungen. Sie sind im besonderen Maß mit (sexueller und geschlechtsbezogener) Gewalt, struktureller Benachteiligung und Ausgrenzung konfrontiert.

 

Infos zum Institut für Frauen und Geschlechterforschung:

http://go.jku.at/n21v3, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Infos zum Institut für Legal Gender Studies:

http://go.jku.at/n21v2, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

 

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